Mit «Capharnaum» beleuchtet Nadine Labaki ein weiteres Mal das Leben von Menschen im Libanon: Während sich ihre früheren Regiearbeiten «Caramel» und «Where do we go now» um Erwachsene, insbesondere Frauenfiguren, drehen, rücken nun die Strassenkinder sowie deren harter, brutaler Alltag in den Fokus.
«Es kann doch nicht sein, dass sich Eltern nicht um ihre Kinder kümmern. All‘ die Beschimpfungen und Schläge, keine Liebe. Ich lebe in der Hölle.» – Zain
Der zwölfjährige Zain (Zain Al Rafeea) sitzt seine Haftstrafe in einem Jugendgefängnis in Beirut ab. Erneut findet er sich im Gerichtsaal ein, diesmal jedoch als Kläger: Zain beschuldigt seine Eltern Souad (Kawthar Al Haddad) und Selim (Fadi Kamel Youssef), dass sie ihn auf die Welt gebracht haben. Zudem wirft er ihnen Vernachlässigung vor, was ihn seiner Rechte beraubt habe. Sein Standpunkt ist klar: Wer nicht für Kinder sorgen kann, soll auch keine kriegen. In der Folge geben die Aussagen von Zains Eltern Aufschluss über ihre Lage: Souad und Selim leben als illegale Einwanderer in einem Slum Beiruts. Ihr Leben ist von Armut und kriminellen Tätigkeiten geprägt, was ihren Kindern eine hoffnungsvolle Zukunft verunmöglicht. Doch Zain zeigt Kampfgeist und geht, ganz auf sich gestellt, einer ungewissen Zukunft entgegen.
Eine Anklage an die Gleichgültigkeit
In diesem Sinne definiert Labaki gleich zu Beginn die Atmosphäre in «Capharnaum», indem sie das Armenviertel aus extremer Vogelperspektive präsentiert und so das Elend verdeutlicht, das Zains Leben durchzieht. Durch diesen «Top Shot» wirken die Hausdächer wie willkürlich aneinander gereihte Stofffetzen, wodurch das Slum einer von Bomben verwüsteten Stadt gleicht und sinnbildlich für Zains zerstörte Kindheit steht.
Labakis Film ist unmissverständlich eine Anklage an die Gleichgültigkeit gegenüber Kindern, wobei sie den Irrsinn der Bürokratie betont: Zain besitzt keine Papiere und hat dadurch kein Recht auf Bildung sowie ärztliche Versorgung. Kurzum: Der Junge ist unsichtbar, sprich nicht existent. Dies gilt jedoch nicht für die Kamera, denn diese verfolgt ihn auf Schritt und Tritt und vermag so sein Umfeld authentisch zu portraitieren und in die Tiefe seiner verletzten Seele zu blicken. Dabei verzichtet Labaki auf eine chronologische Erzählweise und setzt stattdessen Rückblenden ein, die allmählich Licht ins Dunkel der Geschehnisse bringen.
«Capharnaum» basiert auf den Ereignissen, die sich während Labakis dreijährigen Recherchen in Besserungsanstalten, Jugendgefängnissen sowie Armenvierteln ereigneten und verfügt somit über einen dokumentarischen Charakter. Demnach wirken nicht nur die Schauplätze echt und unverfälscht: Labaki besetze die Filmrollen mit Laien, deren Leben ihrer jeweiligen Figur ähnelt, was die Glaubwürdigkeit ihres Schauspiels untermalt. Besonders Zain Al Rafeeas Darbietung ist aussergewöhnlich, denn er besitzt eine unglaubliche Strahlkraft, die weit über die Leinwand hinausgeht. «Capharnaum» rüttelt auf und regt zweifelsohne zum Nachdenken an.
Kinostart Deutschschweiz: 10. Januar 2019
Filmfakten: «Capharnaum» / Regie: Nadine Labaki / Mit: Zain Al Rafeea, Yordanos Shiferaw, Boluwatife Treasure Bankole, Kawthar Al Haddad, Fadi Kamel Youssef, Cedra Izam, Alaa Chouchnieh, Nadine Labaki / Libanon / 127 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Filmcoopi Zürich
Ein schonungsloses Portrait der Strassenkinder von Beirut.
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