In den Neunzigerjahren war Kathryn Bigelow vor allem für ihre schlagkräftigen Beiträge zum Actiongenre bekannt. Inzwischen ist sie zur Hollywood-Chronistin von Amerikas Kriegen geworden. Nach zwei Filmen über den «War on Terror» reist sie in «Detroit» nun in die Vergangenheit und zeigt, wie die USA auch in ihrem Innern Krieg führen.
Bigelows neuer Film – nach «The Hurt Locker» (2008) und «Zero Dark Thirty» (2012) ihre dritte Kollaboration mit dem Drehbuchautoren und ehemaligen Kriegsjournalisten Mark Boal – spielt im «langen heissen Sommer 1967», in dem sich in mehreren amerikanischen Städten die Wut der sozial und politisch unterdrückten schwarzen Bevölkerung in verheerenden Unruhen entlud. Im Juni wurde in den Metropolen Atlanta, Boston und Cincinnati protestiert und geplündert; im Juli traf es Birmingham, Chicago, Milwaukee, New York und das Titel gebende Detroit. Die Aufstände forderten mindestens 76 Menschenleben; über 2’000 wurden verletzt, mehr als 10’000 verhaftet.
Anhand eines animierten Prologs versucht «Detroit», die gesellschaftlichen und ökonomischen Hintergründe jenes Sommers zu vermitteln, bevor Bigelow und Boal während der ersten 20 Minuten darlegen, wie das Pulverfass «Motortown Detroit» explodiert ist – nicht durch ein aussergewöhnliches Ereignis, sondern durch ein nur allzu bekanntes: Eine überwiegend aus Weissen bestehende Polizeipatrouille stürmt eine von Schwarzen veranstaltete Party und geht mit massloser Härte gegen die Anwesenden vor.
Das ist die Ouvertüre zum narrativen Kern des Films: Bigelow und Boal präsentieren eine mögliche Version dessen, was sich in der Nacht vom 25. auf den 26. Juli 1967 im Algiers Motel zugetragen hat. Bekannt ist, dass die städtische Polizei sowie die einberufenen Nationalgardisten in der Absteige einen Scharfschützen vermuteten. Während Letztere irgendwann abzogen, blieb die Detroiter Polizei vor Ort und verhörte die sich im umstellten Gebäude befindenden Gäste – zehn schwarze Männer und zwei weisse Frauen. Am Ende des Einsatzes waren drei der Männer tot.
Während der gut 70, 80 Minuten, die Bigelow im Algiers Hotel verweilt, stellt sie ihr ganzes Können eindrücklich unter Beweis. Tatkräftig unterstützt von Kameramann Barry Ackroyd – dessen Spezialgebiete Kriegsfilme und Ken-Loach-Projekte sind –, zeigt sie die psychologische und physische Brutalität, mit der die Polizisten (Jack Reynor, Ben O’Toole sowie der herausragende Will Poulter) unter den Augen des schwarzen Sicherheitsbeauftragten Melvin Dismukes («Stars Wars»-Held John Boyega) gegen die Beschuldigten vorgehen. Wie der klimaktische Sturm auf das Bin-Laden-Versteck in «Zero Dark Thirty» erzeugt der Algiers-Motel-Akt durch seine Körperlichkeit, seinen Fokus auf einen einzigen Schauplatz, seine das Gefühl der Echtzeit vermittelnde Länge eine ganz eigene Art der Spannung: mitreissend und aufwühlend zugleich.
Der Umstand, dass aufrgund dieses Cinéma-vérité-Stils die Mehrzahl der Figuren nur grob umrissen bleibt – am meisten Charakterisierung erhalten der aufstrebende Motown-Musiker Larry Reed (Algee Smith) und dessen Freund Fred Temple (Jacob Latimore) –, beraubt den Film aber keinesfalls seiner Wucht. Die unübersehbaren Parallelen zwischen dem Amerika im Sommer 1967 und demjenigen im Herbst 2017 füllen die Lücken der Figurenbiografien. Larry, Fred, Carl (Jason Mitchell), Greene (Anthony Mackie) und Aubrey (Nathan Davis Jr.) wurden Opfer derselben rassistischen Kultur, die 50 Jahre später zum gewaltsamen Tod eines Tamir Rice, eines Philando Castile und vieler anderer führte.
«Detroit» demonstriert, von Prolog bis Epilog, wie kaputt das amerikanische System ist – wie praktisch jede Facette des öffentlichen Lebens infiziert ist von weisser Gewalt gegen schwarze Körper. Leichte Kost ist das nicht. Doch deswegen den Blick abzuwenden, das kann sich niemand leisten.
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Kinostart Deutschschweiz: 23.11.2017
Filmfakten: «Detroit» / Regie: Kathryn Bigelow / Mit: John Boyega, Will Poulter, Algee Smith, Jacob Latimore, Jason Mitchell, Anthony Mackie, Hannah Murray, Kaitlyn Dever, Jack Reynor, Ben O’Toole, Nathan Davis Jr. / USA / 143 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Ascot Elite
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