Der klassische Hollywood-Abenteuerfilm bekommt in James Grays faktenbasiertem «The Lost City of Z» einen neuen Anstrich verpasst.
Eigentlich hat es Gray längst nicht mehr nötig, die Leute von seinen Regiequalitäten zu überzeugen. Sieben Filme hat er seit 1994 gedreht, darunter den Leone-d’argento-Gewinner «Little Odessa» (1994), die Joaquin-Phoenix-Dramen «We Own the Night» (2007) und «Two Lovers» (2008) sowie den in die Cannes-Auswahl aufgenommenen «The Immigrant» (2013). Ihr Fluch: solide bis herausragende Kritiken – katastrophale Ergebnisse an den Kinokassen. Somit ist Gray nicht nur unterbewertet: Ihm haftet der Ruf an, sperrige Filme für ein Mindherheitenpublikum zu drehen – wenn man ihn denn überhaupt kennt.
Ändern wird sich das mit «The Lost City of Z» wahrscheinlich nicht. Die Hochglanz-Werbungen, in denen die Präsenz von Stars wie Charlie Hunnam («Pacific Rim»), Robert Pattinson («Twilight») und Sienna Miller («American Sniper») hervorgehoben werden, suggerieren ein Mysteryabenteuer mit grossem Budget und spektakulären Entdeckungen im südamerikanischen Regenwald. Ein befreundeter Filmkritiker ging davon aus, der Film sei eine Fortsetzung von «Oz the Great and Powerful» (2013). Was man bekommt, ist ein introvertiertes Kostümdrama, das sich stilistisch an Thomas Vinterbergs «Far from the Madding Crowd» (2015) orientiert und inhaltlich auf Werke wie Werner Herzogs «Aguirre, der Zorn Gottes» (1972), Francis Ford Coppolas «Apocalypse Now» (1979) und Ciro Guerras «El abrazo de la serpiente» (2015) zurückgreift.
Gray, der das Drehbuch – basierend auf David Granns gleichnamigem Buch – selber verfasst hat, porträtiert hier den englischen Armeeoffiziellen Percy Fawcett (Hunnam), der im frühen 20. Jahrhundert zusammen mit seinem Assistenten Henry Costin (Pattinson) von der Royal Geographic Society zu Landvermessungszwecken ins Amazonasgebiet entsandt wird. Dort stossen die beiden auf Überreste einer untergegangenen Hochkultur – eine Entdeckung, die der konservativen Londoner Elite sauer aufstösst: Es gilt die Lehrmeinung, dass der Regenwald von bemitleidenswerten Wilden bewohnt wird, die nicht zu komplexen Kulturen fähig sind. Doch Fawcett ist wild entschlossen, dem Rätsel auf den Grund zu gehen: Fieberhaft sucht er bis zu seinem mysteriösen Verschwinden 1925 nach der verborgenen Stadt «Z», von der ihm die einheimischen Stämme erzählen.
Zwischen Fawcetts jahrelangen Expeditionen, denen sich zuletzt auch sein Sohn (Tom Holland) anschliesst, liegen Diskussionen mit seiner Ehefrau (Miller), Finanzierungsprobleme, meuternde Kameraden und ein entbehrungsreicher Einsatz im Ersten Weltkrieg. Das alles hievt den Film auf eine Laufzeit von beinahe zweieinhalb Stunden, was trotz des faszinierenden Themas eindeutig zu lang ist.
Das lässt sich jedoch verkraften: Wunderschön bebildert von Darius Khondji, erzählt «The Lost City of Z» eine aufgeklärte postkoloniale Abenteuergeschichte, welche die vereinfachten Romantisierungen («Hatari!») und Horrorvisionen («Aguirre») der Vergangenheit differenzieren: In diesem Film erhalten die oft marginalisierten Frauenfiguren in Form von Sienna Millers Nina Fawcett eine selbstbewusste Stimme. Der lange Schatten kolonialer Sklaverei wird thematisiert. Die Komplexität indigener Kulturen wird nicht nur anerkannt, sondern streckenweise auch lobenswert vertieft – so dürfte Grays Film eine der ersten Hollywoodproduktionen sein, die sich seriös mit rituellem Kannibalismus auseinandersetzen. Und über allem hängt die Ehrfurcht vor einer Historie, die weit über die Vorstellungen der weissen Kolonisierer hinausgeht. Dass es Gray gelungen ist, dieses Gefühl überzeugend zu vermitteln, macht «The Lost City of Z» zu einem Erlebnis.
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Kinostart Deutschschweiz: 30.3.2017
Filmfakten: «The Lost City of Z» / Regie: James Gray / Mit: Charlie Hunnam, Robert Pattinson, Sienna Miller, Tom Holland, Angus Macfayden, Ian McDiarmid, Franco Nero / USA / 140 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Ascot Elite Entertainment Group
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