Im Schatten des weltberühmten Disneyworld-Schlosses spielt sich in Sean Bakers herausragendem Drama «The Florida Project» eine eindringliche Geschichte am Rand der Gesellschaft ab – erzählt aus Kinderperspektive.
Sommer in Kissimmee, einem Vorort von Orlando im Herzen Floridas: Die Sonne brennt vom Himmel, die Luftfeuchtigkeit steigt ins Unerträgliche, die Touristen strömen ins nahe Disneyworld – einst bekannt als Walt Disneys «Florida Project» –, und die sechsjährige Moonee (Brooklynn Prince – eine grosse Entdeckung) verbringt die Ferien damit, mit ihren Freunden Scooty (Christopher Rivera), Dicky (Aiden Malik) und Jancey (Valeria Cotto) im Freien herumzutoben und allerlei Unsinn anzustellen. Moonees Welt ist die Hauptstrasse, die von billigen Souvenir-Outletläden gesäumt ist, ihr Zuhause das heruntergekommene Motel «Magic Castle». Hier, unter den wachsamen Augen des gutherzigen, aber strengen Managers Bobby (Willem Dafoe), bewohnt sie mit ihrer arbeitslosen Mutter Halley (Bria Vinaite) dauerhaft ein Zimmer. Über die Runden kommen die beiden mit dem illegalen Verkauf von Parfüm und der tatkräftigen Hilfe von Scootys Mutter Ashley (Mela Murder).
Auf den ersten Blick scheint «The Florida Project» keinem stringenten Plot zu folgen. Vielmehr scheint es das Anliegen von Regisseur und Autor Sean Baker zu sein, seinem Publikum Einblick in ein selten im Kino dargestelltes Milieu zu verschaffen: das amerikanische Leben am Existenzminimum. Wie in Andrea Arnolds Roadmovie «American Honey» (2016) steht hier das Prekariat im Mittelpunkt – die Verlierer der modernen Kapitalgesellschaft, deren Überleben von Gelegenheitsjobs, Gemeinschaftssinn und Verhandlungsgeschick abhängt.
Doch anstatt den Fokus auf die Erwachsenen zu legen, wie es bei Arnold der Fall war, konzentrieren sich Baker und Co-Autor Chris Bergoch darauf, wie Kinder diese Welt erleben. «The Florida Project» hat sehr wohl einen Plot – doch der wird fast ausschliesslich aus Moonees Sicht erzählt. Man ist angewiesen auf Gesprächsfetzen und kindergerechte Erklärungen, Geräusche aus dem Off, Details auf der Leinwand, um die festen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Szenen zu erkennen.
So wirkt auch die unterschwellige Tragik des Ganzen niemals plakativ. Der Film verweilt nicht auf der Ironie von Moonees «Magic Castle», praktisch in Sichtweite von Cinderellas Schloss, sondern zeigt Figuren, die sich längst damit abgefunden und ihr Leben daran angepasst haben: Moonee sucht sich ihre Disney-Magie auf Kuhwiesen und in verlassenen Wohnsiedlungen. Halley hat Mittel und Wege gefunden, den Tourismus zu ihrem Vorteil zu nutzen. Bobby, von Willem Dafoe mit grandioser Melancholie und Menschlichkeit gespielt, bemüht sich redlich, seinen gebeutelten Mietern ein sicheres Zuhause zu geben.
Gemacht ist dieses ebenso so schöne wie traurige Stimmungsbild virtuos – erzählerisch, emotional und nicht zuletzt ästhetisch.
Gemacht ist dieses ebenso so schöne wie traurige Stimmungsbild virtuos – erzählerisch, emotional und nicht zuletzt ästhetisch. Wie bereits «Tangerine» (2015), Bakers schrille, mit einem iPhone gedrehte Komödie über einen Tag im Leben zweier Transgender-Prostituierten in Los Angeles, begeistert «The Florida Project» mit satten Farben, goldenen Sonnenuntergängen und einem starken Sinn für Bewegung und Kadrage. Dass es bei den Oscarnominationen nur bei der (hochverdienten) Erwähnung von Dafoe blieb, ist ein Jammer, hat man es hier doch mit einem wunderbaren Gesamtkunstwerk zu tun.
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Kinostart Deutschschweiz: 8.2.2018
Filmfakten: «The Florida Project» / Regie: Sean Baker / Mit: Brooklynn Prince, Bria Vinaite, Willem Dafoe, Mela Murder, Christopher Rivera, Valeria Cotto, Caleb Landry Jones, Macon Blair / USA / 109 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Filmcoopi
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