Voller filmemacherischer Virtuosität erzählt Hlynur Pálmason eine Geschichte über Trauer, Einsamkeit und schwelenden Zorn in der stimmungsvoll-nebligen isländischen Provinz. Trotzdem bleibt vieles in «A White, White Day» ästhetischer Selbstzweck.
Eine wilde Autofahrt durch den Nebel, die von der ersten Sekunden an Unbehagen auslöst. Der monatelange Umbau eines Hauses, komprimiert zu einer eindrücklichen Reihe von Einstellungen aus dem exakt gleichen Winkel. Die lange Reise eines Felsbrockens, der einen Hang hinunterrollt. Ein Fussmarsch durch einen immer dunkler werdenden Tunnel. Strassenszenen, die dem Publikum aus der Sicht einer mysteriösen Schaltzentrale gezeigt werden. «A White, White Day» mangelt es wahrlich nicht an ungewöhnlichen Griffen in die filmische Trickkiste, um den Trauerprozess des frisch verwitweten Landpolizisten Ingimundur (Ingvar Eggert Sigurðsson) möglichst eindrücklich zu gestalten.
«‹A White, White Day› mangelt es wahrlich nicht an ungewöhnlichen Griffen in die filmische Trickkiste, um den Trauerprozess des frisch verwitweten Landpolizisten Ingimundur möglichst eindrücklich zu gestalten.»
Keine Frage, das zeugt von der vielversprechenden Kunstfertigkeit von Regisseur und Drehbuchautor Hlynur Pálmason («Winter Brothers»), der es hervorragend versteht, die spektakulären geologischen und meteorologischen Verhältnisse seiner Heimat in atmosphärische Filmbilder zu verwandeln. Es dürfte schon jetzt feststehen, dass der erst 35-Jährige die Kinolandschaft Islands in Zukunft tatkräftig mitgestalten wird. Doch im Fall von «A White, White Day» muss man sich fragen, ob diese ganze verspielte Schnörkelei die richtige Entscheidung war.
Eine faszinierend undurchsichtige Präsenz
Denn Inhalt und Form stehen hier in einem seltsamen Kontrast zueinander. Während gewisse Kunstgriffe an die bemühte, geradezu performativ «isländische» Skurrilität eines Benedikt Erlingsson («Of Horses and Men», «Woman at War») erinnern, scheint die abgründige Handlung eher nach der stillen Melancholie von Grímur Hákonarsons herausragendem «Rams» (2015) zu verlangen. Konkret bedeutet das, dass der Film an emotionaler Intensität einbüsst, da er immer wieder das Interesse an seinen Figuren zu verlieren scheint, um stattdessen einem rollenden Felsen oder geheimnisvollen, dramaturgisch überflüssigen Überwachungskameras nachzustellen.
Dass das Ganze dennoch als stimmige Charakterstudie funktioniert, ist nicht zuletzt Ingvar Eggert Sigurðsson zu verdanken. Der Hollywood-erprobte Hauptdarsteller («Justice League», «Fantastic Beasts») macht aus dem psychisch angeschlagenen Ingimundur eine faszinierend undurchsichtige Präsenz, deren Entwicklung vom gemütlichen Opa zum blindwütigen Berserker durchaus nachvollziehbar wirkt. Für Sigurðsson liegt die Tragik seiner Rolle in der emotionalen Unausgeglichenheit, die der Verlust seiner Ehefrau hinterlassen hat: Selbst in den zärtlichen Momenten mit seiner Enkelin Salka (der ebenfalls grossartigen Ída Mekkín Hlynsdóttir) ist Ingimundurs düstere Seite erkennbar – subtile Nuancen in Tonfall, Mimik und Gestik, die suggerieren, dass ein Spiel mehr als ein Spiel, eine Gutenachtgeschichte mehr als eine Gutenachtgeschichte ist.
«Die Geschichte von Ingimundur, Salka und den ‹weissen, weissen Tagen›, an denen die Toten die Lebenden besuchen, übt bis zum Schluss eine urtümliche Faszination aus.»
Als Gesamtkunstwerk mag «A White, White Day» nicht restlos überzeugen. Dass der Film ursprünglich als Krimi konzipiert war, Hlynur Pálmason sich in der Folge aber für eine Charakterstudie entschied, ist angesichts der wenig eleganten Mischung aus Mystery-Elementen und minimalistischem Figurendrama alles andere als eine Überraschung. Und trotzdem übt die Geschichte von Ingimundur, Salka und den «weissen, weissen Tagen», an denen die Toten die Lebenden besuchen, bis zum Schluss eine urtümliche Faszination aus.
–––
Kinostart Deutschschweiz: 21.11.2019
Filmfakten: «A White, White Day» («Hvítur, Hvítur Dagur») / Regie: Hlynur Pálmason / Mit: Ingvar Eggert Sigurðsson, Ída Mekkín Hlynsdóttir, Hilmir Snær Guðnason / Island / 109 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Xenix Filmdistribution GmbH
Die filmischen Mittel, denen sich Hlynur Pálmason in «A White, White Day» bedient, mögen nicht so recht zur Geschichte passen, doch Ingvar Eggert Sigurðssons Schauspiel macht vieles wett.
No Comments