Seit jeher zieht es den Menschen zu den Sternen – und das Kino mit ihm. «Ad Astra», der neue Film des schmählich unterbewerteten US-Regisseurs James Gray, ist ein beeindruckendes Weltraumabenteuer, das sich eingehend mit dieser Tradition auseinandersetzt und Fragen stellt, die jetzt, wo die Sterne näher scheinen denn je zuvor, von besonderer Dringlichkeit sind.
«Space: the final frontier», heisst es in «Star Trek». Das Weltall ist «die letzte Grenze», die es zu überqueren und zu erforschen gilt – eine unvorstellbare, endlose Weite voller Geheimnisse, die sich vielleicht nie entschlüsseln lassen werden. Wie der Polarkreis, der Wilde Westen und die «Neue Welt», welche für die indigenen Völker alles andere als neu war, ist auch der Weltraum eine Projektionsfläche für menschliche Ängste, Hoffnungen und Träume: Sind wir allein im Universum? Würde die Entdeckung intelligenter Lebewesen auf einem der Milliarden von Planeten, die es da draussen geben muss, unsere Erlösung oder unseren Untergang bedeuten? Könnten wir dereinst selbst auf einem dieser fremden Himmelskörper leben?
«Während Georges Méliès in ‹Le voyage dans la lune› den Mond mit göttlichen Wesen und lästigen Insektenmonstern bevölkerte, war Alfonso Cuarón in ‹Gravity› der Auffassung: ‹Life in space is impossible›.»
Das Kino hat im Laufe der Jahrzehnte verschiedene Antworten auf diese Fragen gefunden. Während Georges Méliès in «Le voyage dans la lune» (1902) den Mond mit göttlichen Wesen und lästigen Insektenmonstern bevölkerte, war Alfonso Cuarón in «Gravity» (2013) der Auffassung: «Life in space is impossible». In «The Martian» (2015) tüftelte sich Matt Damon in bester «Robinson Crusoe»-Manier aus seinem Exil auf dem roten Planeten, wohingegen Stanley Kubrick, Christopher Nolan und Denis Villeneuve viel von der Unzulänglichkeit der menschlichen Vorstellungskraft im Angesicht der Mysterien des Kosmos zu erzählen wissen.
Wer James Grays postkolonialen Abenteuerfilm «The Lost City of Z» (2016) gesehen hat – wie die meisten seiner Werke ein Flop an den Kinokassen –, wird nicht überrascht sein, dass er sich in seiner ersten Science-Fiction-Produktion nicht zufriedengibt, in dieselbe Kerbe wie seine Vorgänger*innen zu schlagen, sondern sich einmal mehr in konstruktivem Genre-Revisionismus übt. Denn «Ad Astra» – lateinisch für «zu den Sternen» – verfügt zwar durchaus über den philosophischen Eifer eines «2001: A Space Odyssey» (1968) oder eines «High Life» (2018), vergisst dabei aber niemals die urmenschliche Tendenz, selbst die erhabensten Erfahrungen irgendwann ins Profane zu ziehen.
«‹Ad Astra› vergisst niemals die urmenschliche Tendenz, selbst die erhabensten Erfahrungen irgendwann ins Profane zu ziehen.»
Das ist die nahe Zukunft, die Gray und Co-Autor Ethan Gross hier entwerfen: Es wurden Aussenposten auf dem Mond und dem Mars errichtet; es gibt Raumflughäfen, die touristisch bestens erschlossen sind; auf der Mondoberfläche bekriegen sich Regierungen und Outlaws um die Herrschaft über kosmische Ressourcen. Der Kapitalismus gibt inzwischen auch am Firmament den Ton an; die Kolonisierung des Alls ist in vollem Gange. Sah sich der legendäre Astronaut Clifford McBride (Tommy Lee Jones) noch der hehren Suche nach einer tieferen Wahrheit im Dunkel des Weltraums verpflichtet, als er vor Jahren auf einer Mission zum Neptun verschwand, macht sich sein Sohn Roy (Brad Pitt), seines Zeichens ebenfalls Raumfahrer, keine Illusionen: Er fliegt «zu den Sternen», um seiner zerrütteten Ehe zu entfliehen.
«Gray kreiert immer wieder Momente von aussergewöhnlichem Tiefgang, die den männlichen Heldenkomplex des Science-Fiction-Kanons aushebeln und das Genre effektiv weiterdenken.»
Selbstverständlich handelt «Ad Astra» davon, wie der Sohn versucht, den verschollenen Vater ausfindig zu machen. Gray reichert diese archaische, bisweilen hyperliterarische Erzählung im Stile von «Heart of Darkness» und «Moby-Dick» aber nicht nur mit herausragend inszenierten, schaurig stillen Action- und Thrillersequenzen an, in denen die grandiose Arbeit von Kameramann Hoyte van Hoytema («Interstellar») und Komponist Max Richter besonders zur Geltung kommt. Trotz einer nicht eben subtilen Überbeanspruchung von inneren Monologen, die selten etwas Wesentliches zu einer Szene beitragen, kreiert Gray immer wieder Momente von aussergewöhnlichem Tiefgang, die den männlichen Heldenkomplex des Science-Fiction-Kanons aushebeln und das Genre effektiv weiterdenken – etwa indem er die vielleicht essenziellste kosmische Frage in den Raum stellt: Was, wenn das Weltall, die letzte Grenze, wirklich nicht mehr als eine leere, tote Projektionsfläche ist?
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Kinostart Deutschschweiz: 19.9.2019
Filmfakten: «Ad Astra» / Regie: James Gray / Mit: Brad Pitt, Tommy Lee Jones, Liv Tyler, Donald Sutherland, Ruth Negga / USA / 124 Minuten
Bild- und Trailerquelle: 20th Century Fox
Unterhaltung und Tiefgang halten sich im Weltraumabenteuer «Ad Astra» die Waage. Für die unnötigen Voiceovers entschädigen ein starker Brad Pitt und grossartige Schauwerte.
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