«Aftersun», das Langspielfilmdebüt der britischen Autorin und Regisseurin Charlotte Wells, für das Hauptdarsteller Paul Mescal für einen Oscar nominiert wurde, ist ein unspektakuläres, dafür umso berührenderes Vater-Tochter-Drama über das Ende der Kindheit und die Gefühle, die Eltern vor ihren Kindern verbergen.
Zu erkennen, dass die eigenen Eltern ganz normale Menschen mit Fehlern, Widersprüchlichkeiten und komplexen Emotionen sind, gehört zu den Schlüsselerlebnissen des Erwachsenwerdens. Doch Sophie (Frankie Corio), die elfjährige Protagonistin von «Aftersun», macht diese Erfahrung früher als die meisten: Zusammen mit ihrem Vater Calum (Paul Mescal) verbringt sie in Charlotte Wells‘ Langspielfilmdebüt einen schicksalhaften Türkei-Pauschalurlaub, in dessen Verlauf sowohl ihr als auch dem Publikum klar wird, dass ihr Leben bald nicht mehr so sein wird wie vorher.
Es ist eine Ausgangslage, die einiges an bedrohlichem erzählerischem Potenzial mit sich bringt. Weiss man um den dramatischen Übermut, von dem Erstlingswerke wie «Aftersun» nur allzu oft ergriffen werden, könnte einen das mit Sorge erfüllen: Ob man es hier wohl wieder einmal mit einem überambitionierten Coming-of-Age-Drama zu tun hat, in dem ein singuläres traumatisches Ereignis das metaphorische Ende der Kindheit markiert?
Doch Wells zerstreut solcherlei Befürchtungen rasch. «Aftersun» beginnt mit Sophie, die ihren Vater im gemeinsamen Hotelzimmer mit einer kleinen DV-Kamera filmt und ihm Fragen zu seinem bevorstehenden 31. Geburtstag stellt. Wenig später ist die Filmemacherin Celia Rowlson-Hall zu sehen, die, offenkundig in der Rolle der erwachsenen Sophie, auf diese an sich nicht weiter bemerkenswerten Ferienaufnahmen zurückblickt. Wells‘ thematische Stossrichtung ist eindeutig: Hier geht es nicht um rührselige Nostalgie oder eine stark vereinfachte Darstellung von in der Kindheit erworbenen Komplexen – hier geht es um den Graben zwischen Erlebtem und Erinnertem, um Momente, Gesten, Aussagen, Urlaubsreisen, ja ganze Beziehungen, deren wahre Bedeutsamkeit erst rückblickend fassbar wird.
«Hier geht es nicht um rührselige Nostalgie oder eine stark vereinfachte Darstellung von in der Kindheit erworbenen Komplexen – hier geht es um den Graben zwischen Erlebtem und Erinnertem, um Momente, Gesten, Aussagen, Urlaubsreisen, ja ganze Beziehungen, deren wahre Bedeutsamkeit erst rückblickend fassbar wird.»
Dass Sophie zusammen mit Calum an die türkische Mittelmeerküste fährt, ist keine Selbstverständlichkeit: Sie lebt augenscheinlich bei ihrer Mutter, von der er schon eine Weile getrennt ist; und überhaupt scheint in seinem Leben – gerade in finanziellen Dingen – nicht alles im Lot zu sein. Dank des dezenten Mienenspiels von «Normal People»-Star Paul Mescal, der selbst in den scheinbar fröhlichsten Momenten eine tiefe innere Traurigkeit durchschimmern lässt, wirken Calums Bemühungen, seiner Tochter trotz seiner Verfassung einen Aufenthalt zu ermöglichen, an den sie sich dereinst mit Freude erinnern wird, umso herzzerreissender.
Dahinter steckt auch die sorgfältige Überlagerung verschiedener erzählerischer Perspektiven, mit der sich Wells als Autorin und Regisseurin profiliert. «Aftersun» ist die Geschichte der jungen Sophie, die mit ihrem Vater herumalbert, im Hotel-Pool planscht, ihren ersten Kuss erlebt und sich mit coolen Teenagern anfreundet – aber es ist auch die von Calum, der versucht, seine Depression zu überwinden, oder allermindestens Sophie davor zu beschützen, damit konfrontiert zu werden. Und dann gibt es ja auch noch die ältere Sophie, die das Verhalten ihres Vaters, das sie damals noch seltsam oder gar unmotiviert gemein fand – sein barscher Verzicht auf die gemeinsame Karaoke-Nummer, seine ausbleibende Begeisterung über das Geburtstagsständchen, das Sophie für ihn organisiert – inzwischen nicht nur einordnen, sondern vielleicht sogar nachvollziehen kann.
«Das zwischenmenschliche Drama, das sich vor dieser Kulisse nach und nach andeutet, aber zu keinem Zeitpunkt aufdrängt, gehört zum Berührendsten, was es derzeit im Kino zu sehen gibt.»
«Aftersun» ist ein Film, in dem nicht viel passiert – jedenfalls nicht an der Oberfläche. Wells zeigt, ganz im Stil des britischen Sozialrealismus – wenn auch mit ein bisschen mehr Sonne als üblich –, einen Mann und seine Tochter, die gegen Ende der Neunzigerjahre einen Durchschnittsurlaub par excellence miteinander verbringen. Doch das zwischenmenschliche Drama, das sich vor dieser Kulisse nach und nach andeutet, aber zu keinem Zeitpunkt aufdrängt, gehört zum Berührendsten, was es derzeit im Kino zu sehen gibt.
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Kinostart Deutschschweiz: 23.2.2023
Filmfakten: «Aftersun» / Regie: Charlotte Wells / Mit: Frankie Corio, Paul Mescal, Celia Rowlson-Hall / Grossbritannien, USA / 101 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Outside the Box
«Aftersun» ist ein Debüt nach Mass – subtil, berührend, erzählerisch und stilistisch raffiniert. Von Charlotte Wells dürfte man in Zukunft noch einiges hören.
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