Wer mit Geschwistern gross wurde, weiss, wie schwer die erste Trennung ist, wenn sie erwachsen werden und ihre eigenen Wege gehen. Diese führen in verschiedene Richtungen, und so mancher Plan vom Glücklichsein geht nicht auf. In Edward Bergers Film steht nicht, wie sonst häufig in deutschen Produktionen, eine bestimmte Stadt im Vordergrund, sondern eine Geschichte von drei Geschwistern am Lebenswendepunkt, die überall auf der Welt erzählt werden könnte. Ein Drama ohne Helden, unaufgeregt aus dem Leben gegriffen und gerade deshalb so sehenswert.
Im Prolog treffen sich die Geschwister Julia (Nele Mueller-Stöfen), Stefan (Lars Eidinger) und Tobias (Hans Löw), alle um die 40, in einem schicken Szenerestaurant, um ein paar Dinge zu regeln, und nicht, wie man erwarten würde, um miteinander zu plaudern. Wer kümmert sich um Julias Hund, wenn sie verreist? Wer sieht nach den Eltern, nachdem der Vater auch noch den letzten Krankenpfleger vergrault hat.
Darauf folgen drei in sich geschlossene Episoden, die von den krisenhaften Entwicklungen im Leben der Geschwister erzählen. Stefan ist eigentlich Pilot und darf wegen einem teilweisen Gehörverlust und Schwindel nicht mehr fliegen. Trotzdem fährt er mit dem Porsche abends in Hotelbars, um in seiner Pilotenuniform Frauen aufzureissen. Mit seiner pubertierenden Tochter aus einer früheren Beziehung, die er nur selten sieht, ist er genauso überfordert wie mit Julias Hund, auf den er aufpasst.
Julia wiederum fährt mit Christian (Godehard Giese) nach Turin, um nach dem Tod des gemeinsamen Sohnes das Eheleben zu reanimieren. Dort findet sie einen verletzten Strassenköter, um den sich liebevoll zu kümmern ihr anscheinend leichter fällt, als ihrem Mann wieder näher zu kommen.
Und Tobias kümmert sich um seine drei Kinder und den Haushalt, da seine Frau Karriere macht und er mit 39 Jahren immer noch an seiner Diplomarbeit schreibt. Jetzt soll er auch noch die Eltern unterstützen, weil der Vater die Arztbesuche verweigert und die Mutter das Haus renovieren lässt, um die Realität des Älterwerdens zu verdrängen.
«Jede*r hat die eigene Geschichte, und man schaut dabei zu, wie die Masken der Lebenslügen allmählich fallen.»
Die fein nuancierten Protagonist*innen in diesem ruhigen Episodenfilm sind bemerkenswert, denn jede*r hat die eigene Geschichte, und man schaut dabei zu, wie die Masken der sich aufgestauten Lebenslügen allmählich fallen. Die Balance zwischen dem, was gesprochen und was angedeutet wird, zu halten war mit Sicherheit eine grosse Herausforderung für den Regisseur, denn die Geschwister wirken einander fremd, fast distanziert, und ihre Lebenskrisen und die notwendigen Veränderungen lassen sich streckenweise nur erahnen. Schon der englische Filmtitel verrät einen Blick aus einer gewissen Distanz.
In jeder einzelnen Episode scheint Julia das organisatorische Bindeglied der Geschwisterbeziehung zu sein, da sie sich bei Stefan nach ihrem Hund und bei Tobias nach dem Vater erkundigt. In zurückhaltenden Bildern keimt bei den Darstellenden dennoch am Ende jeder Episode ein kleines Stück Hoffnung auf, sodass man sich mit dem Schicksal entweder versöhnt oder erkennt, wo man nicht hingehört. Jede*r für sich allein.
Im Epilog, wo die Geschwister wieder zusammenkommen, wo ihre Liebe zueinander erstmals spürbar ist, zeigt sich, dass ein Geschwisterband so schnell nicht zerrissen wird – egal, was passiert und was man einander vormacht. Edward Berger hätte diese Liebe in allen drei Episoden mehr einsetzen dürfen, denn auch der gut situierte Mittelstand jenseits der 40, dessen Leben sich irgendwo festgefahren hat, kann unglücklich sein, und darf das auch zeigen.
«Es ist das ganz normale Schicksal, die Endlichkeit, die Lebenssituationen, die fast jeder in diesem Alter kennt, die diesen Film sehenswert machen.»
«All My Loving» ist Bergers zweiter deutschsprachiger Film. Wenn auch weniger euphorisch als sein Erstling «Jack», für den er 2014 den Deutschen Filmpreis in Silber gewann, zeigt dieses Geschwisterdrama den Schmerz der Figuren sehr subtil und lässt uns lange zuschauen, bis dieser an die Oberfläche dringen darf. Berger erzählt, dass er das Drehbuch schon lange vor «Jack» geschrieben hatte, aber warten musste, weil er erst selbst das Alter der Protagonist*innen erreichen wollte, um sie wirklich verstehen zu können.
Wie schon bei «Jack» hat auch hier Nele Mueller-Stöfen am Drehbuch mitgeschrieben – eine Involviertheit, die sich auch in ihrer Darbietung niederschlägt: In ihrer Rolle, als Julia verkörpert sie den unterdrückten Schmerz des Verlustes so wirkungsvoll, dass es auch für das Publikum eine Befreiung ist, als sie den Strassenköter wieder in seine gewohnte Freiheit entlässt.
Lars Eidinger («25 km/h», «Dumbo», «Babylon Berlin»), in der Rolle des draufgängerischen Stefan, vermittelt hingegen in feinen Nuancen die Sinnesleere in seinem Leben und die Erkenntnis, dass er mit der «Alles wird gut»-Strategie nicht weiterkommt. Genauso wie Hans Löw («Die Kirche bleibt im Dorf», «Charité») als Nesthäkchen Tobi, der zwischen Ratlosigkeit und Wutausbrüchen seiner Überforderung einen bemerkenswerten Ausdruck verleiht. Sie alle tragen dazu bei, dass dieser Film über das ganz normale Schicksal, die Endlichkeit, die Lebenssituationen, die fast jede*r in diesem Alter kennt, trotz kleinerer Schwächen sehenswert ist.
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Wegen des Coronavirus stellen Outside the Box und 22 Deutschschweizer Kinos den Film für zehn Franken zum Streamen zur Verfügung. Infos gibt es hier.
VOD-Release: 23.4.2020
Filmfakten: «All my Loving»/ Regie: Edward Berger/ Mit: Lars Eidinger, Nele Mueller-Stöfen, Hans Löw, Godehard Giese, Christine Schorn, Manfred Zapatka / Deutschland / 118 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Outside the Box
Ein distanziertes, gut beobachtetes Drama um drei Geschwister – wie aus dem Leben von Menschen um die 40 gegriffen.
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