Andrew Haighs Geistergeschichte «All of Us Strangers» ist eine metaphysische Reflexion über Liebe und Zugehörigkeit, die einen zutiefst erschüttert zurücklässt. Der Film vereint eine meisterhafte Erzählung mit grosser Handwerkskunst in allen Bereichen.
Adam (Andrew Scott) ist ein Drehbuchautor Anfang 40, der in einem bis anhin noch fast leerstehenden Hochhaus in London wohnt. Sein Leben als Einzelgänger wird aufgemischt, als eines Nachts Harry (Paul Mescal) vor seiner Tür steht – der scheinbar einzige andere Bewohner des Blocks. Harrys erster Auftritt ist schräg: Der betrunkene Fremde sprüht vor Charisma – doch gleichzeitig hat man das Gefühl, selten so einer verzweifelten Gestalt begegnet zu sein. Entsprechend wird er von Adam anfänglich abgewiesen. Bald aber folgen weitere Begegnungen. Es scheint fast, als ob überall, wo Adam hinschaut, sein Blick auf Harry fällt. Während die zwei beginnen, miteinander anzubandeln, sich gar eine feste Beziehung anbahnt, versucht Adam, seine Kindheit und den frühen Verlust seiner Eltern in einem Drehbuch zu verarbeiten. Wie das vorangehe, fragt Harry. «Strangely», lautet die Antwort.
So kryptisch diese Aussage in diesem Moment für Harry bleibt, wissen wir als Zuschauer*innen bereits sehr viel mehr über die Tragweite dieser Bemerkung. Bei einem Besuch in Croydon – dem Ort seiner Kindheit – begegnet Adam einem Mittdreissiger (Jamie Bell). Dieser trägt eine lederne Bomberjacke, Karottenjeans und ein rotes Denimhemd, wirkt etwas aus der Zeit gefallen, hat seine Klamotten vielleicht aber auch einfach in einem der vielen Londoner Seconhand-Läden gekauft, wo die Achtzigerjahre-Fummel inflationär vorhanden sind. Sie scheinen sich zu kennen, Adam und dieser Mann. Als gäbe es eine unausgesprochene Vereinbarung zwischen ihnen, folgt Adam ihm zu einem Kiosk. Danach stehen sie sich gegenüber: «Shall we go, then?», fragt der Fremde. «Where?», fragt Adam zurück. «Home, of course».

Paul Mescal und Andrew Scott in «All of Us Strangers» / © Searchlight Pictures. All Rights Reserved.
Mit der Leichtfüssigkeit dieser Dialoge lässt Regisseur und Drehbuchautor Andrew Haigh («Weekend», «45 Years») seinen Protagonisten in die Vergangenheit reisen – eine Vergangenheit, die eben auch Gegenwart ist. Der Wunsch eines jeden Menschen, verstorbene geliebte Menschen noch einmal zu sehen, wird Adam und seinen Eltern gewährt. So startet die wiedervereinte Familie den Versuch, ein Trauma zu überwinden, verlorene Jahre aufzuholen – aber auch, sich gegenseitig neu kennenzulernen.
Auf elegante Weise behandelt Haigh auch das Thema der homosexuellen Identität, ohne jemals moralisierend zu werden: die Eltern, die in den Achtzigerjahren auf sehr unterschiedliche Weise um ihren schwulen Sohn fürchteten; Harry, der Schwulsein nicht mehr mit AIDS in Verbindung bringt und queer als den «höflicheren» Ausdruck für Homosexualität empfindet – «like all the dick sucking’s been taken out». Als Scharnier zwischen den beiden Zeitebenen und Generationen fungiert der Soundtrack mit Hits aus den Achtzigern, der oft auch auf narrativer Ebene gespiegelt wird.
«Auf elegante Weise behandelt Haigh auch das Thema der homosexuellen Identität, ohne jemals moralisierend zu werden: die Eltern, die in den Achtzigerjahren auf sehr unterschiedliche Weise um ihren schwulen Sohn fürchteten; Harry, der Schwulsein nicht mehr mit AIDS in Verbindung bringt und queer als den ‹höflicheren› Ausdruck für Homosexualität empfindet.»
Die Darstellungen von Andrew Scott («Sherlock», «Fleabag») und Paul Mescal («Normal People», «Aftersun») als Liebespaar sind herausragend. Mit unglaublicher Chemie schaffen die beiden ein zärtliches Porträt einer fragilen Liebe; ihre jeweiligen Ausdrücke eröffnen einen Kosmos von Gefühlregungen in feinsten Nuancen. Beide festigen mit «All of Us Strangers» ihren Status als zwei der besten Darsteller ihrer Generation.

Jamie Bell in «All of Us Strangers» / © Searchlight Pictures. All Rights Reserved.
Bemerkenswert sind aber auch «Mum» und «Dad», gespielt von Jamie Bell («Billy Elliot», «Rocketman») und Claire Foy («The Crown», «First Man»). Es gelingt ihnen mit unglaublicher Subtilität, die zeitweise ambivalenten elterlichen Gefühle auf die Leinwand zu bringen und gleichzeitig überraschend zu bleiben. Dass keine*r der vier Schauspieler*innen für einen Oscar nominiert wurde, ist wohl der grösste «Snub» im Vorfeld der diesjährigen Preisverleihung.
«Die Geister in ‹All of Us Strangers› kennt man aus dem eigenen Leben auch – und nach dem Film hat man das Gefühl, als würden sie unsichtbar neben einem hergehen.»
Haigh basierte «All of Us Strangers» lose auf einer Romanvorlage – «Strangers» von Taichi Yamada – und schafft dennoch einen Film, der sich sehr persönlich anfühlt. Dies liegt nicht zuletzt an der wunderbaren Arbeit des südafrikanischen Kameramanns Jamie D. Ramsay, der die intimen Momente der Geschichte in äusserst poetische Bilder übersetzt. Dabei gelingt es Haigh und Ramsay gemeinsam auch immer, dem Pathos auszuweichen, berührend und ästhetisch geschliffen zu bleiben und nicht in die Falle der Achtzigerjahre-Nostalgie zu tappen. Kurzum: Haighs Film ist ein Meisterwerk, das noch lange nachhallen wird. Die Geister in «All of Us Strangers» kennt man aus dem eigenen Leben auch – und nach dem Film hat man das Gefühl, als würden sie unsichtbar neben einem hergehen.
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Kinostart Deutschschweiz: 8.2.2024
Filmfakten: «All of Us Strangers» / Regie: Andrew Haigh / Mit: Andrew Scott, Paul Mescal, Jamie Bell, Claire Foy / Grossbritannien / 106 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © Searchlight Pictures. All Rights Reserved.
Andrew Haighs «All of Us Strangers» brilliert mit visueller und darstellerischer Schönheit. Ein Film über die Liebe, der uns alle betrifft. «The Power of Love» hat sich noch nie so gut angehört.
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