Das 75. Locarno Film Festival ist Geschichte – und wir stellen euch fünf Programmpunkte vor, die uns ganz speziell in Erinnerung geblieben sind.
Europäsche Horrorvision: «Fairytale» von Alexander Sokurov
Die Prämisse allein ist die Visionierung wert: Der gefeierte russische Filmemacher Alexander Sokurov lässt in seinem faszinierenden Essayfilm «Fairytale» Deep-Fake-Archivaufnahmen von Josef Stalin, Adolf Hitler, Benito Mussolini und Winston Churchill 78 Minuten lang durch ein albtraumhaftes Fegefeuer wandeln. Zwar verheddert sich der Regisseur von «Russian Ark» (2002) und «Francofonia» (2015) etwas gar oft in komödiantisch angehauchten Dialogen, in denen sich die Zweitweltkriegs-Potentaten wegen ihrer jeweiligen Gerüche triezen, doch der gewichtigen Substanz des Projekts tut dies letztlich keinen Abbruch: «Fairytale» erzählt mit atemberaubendem Bild- und Tondesign von einem Nachkriegseuropa, das nie über diese vier überlebensgrossen Figuren hinweggekommen ist und sich nun – in Zeiten der allgemeinen Verunsicherung – wieder hingezogen fühlt zum nationalistisch-totalitären Nimbus, der sie umgibt. «Everything will be forgotten and it will start over»: Sokurovs Mahnmal gegen das Vergessen könnte nicht zeitgemässer sein. / Alan Mattli
Ernüchterung auf der Piazza Grande: «Bullet Train» von David Leitch
Knapp zwei Stunden lang donnert man in «Bullet Train» mit Brad Pitt, Aaron Taylor-Johnson und Joey King im Schnellzug durch Japan. Die fünf Auftragskiller*innen im gleichen Zug mit unterschiedlichen Zielen garantieren actionreiche Fights und teils mehr, teils weniger amüsante Dialoge. Das war’s dann eigentlich auch schon: Der Plot bleibt unausgeklügelt, Szenen, die ohne erkennbaren Grund für Reizüberflutungen sorgen, häufen sich, und die Figuren sind je länger je überzeichneter. Kann man gucken, muss man aber nicht. / Aline Schlunegger
Versöhnliche Festival-Evergreens: «The Visitors» von Veronika Lišková und «Stone Turtle» von Woo Ming Jin
Es sind zwei Formate, die es an praktisch jedem Filmfestival zu sehen gibt: die gewissenhaft-informative Dokumentation und den ambitionierten, aber nicht ganz zu Ende gedachten Arthouse-Film mit gelegentlichen Anflügen von magischem Realismus. Entsprechend schwer haben es Produktionen, die nach diesen Schemata funktionieren, sich von gleichartigen Werken abzuheben. Beim diesjährigen Festival von Locarno ist dies aber gleich zweien gelungen: In «The Visitors» porträtiert Veronika Lišková die Arbeit der Anthropologin Zdenka Sokolíčková auf dem abgelegenen norwegischen Archipel Svalbard, dessen multikulturelle, hochgradig internationale Bevölkerung an einem Scheideweg steht. «Stone Turtle» vom Malaysier Woo Ming Jin wiederum erzählt von einem schicksalhaften, mysteriös zyklischen Aufeinandertreffen zweier Menschen auf einer nur von Frauen bewohnten Insel. Beide Filme haken die bekannten Festival-Checklisten fein säuberlich ab, schaffen es aber dank gewisser stilistischer Variationen gerade so, der anonymen Formelhaftigkeit zu entkommen. / Alan Mattli
Kino, quo vadis? «Last Screening» von Darezhan Omirbayev
In der kasachischen Gesellschaft klaffe ein Graben, ist in «Last Screening» aus einem Radio zu hören – zwischen Armen und Reichen, zwischen Stadt und Land, zwischen ethnischen Russ*innen und ethnischen Kasach*innen. Und Darezhan Omirbayev verbindet diese Diskrepanz in seinem neuesten Kurzfilm mit der oft beklagten Existenzkrise des Kinos im 21. Jahrhundert: Er begleitet seinen jungen cinephilen Protagonisten auf seinem langen Weg durch den Grossstadtdschungel, um ins nächste Kino zu kommen, wo einiges an Kreatvität nötig ist, um die Vorstellung überhaupt stattfinden zu lassen. Unterwegs bleibt Omirbayevs Kamera an alltäglichen Details des urbanen kasachischen Lebens hängen – etwa an den omnipräsenten Smartphones, auf denen während einer Busfahrt von Fritz Lang und Jean-Luc Godard bis TikTok und Instagram alles zu sehen ist. Das Kino ist nicht tot; Kasachstan ist nicht unwiederbringlich gespalten – doch beide brauchen neue Impulse, neue Ideen, neue Formen. / Alan Mattli
Technicolor-Träume: Auf den Spuren von Douglas Sirk
Die Retrospektiven am Locarno Film Festival sind immer ein besonderes Vergnügen, und die 75. Ausgabe war keine Ausnahme – und konnte obendrein noch mit einem Hauch von Lokalbezug punkten: Im Fokus stand dieses Jahr nämlich Douglas Sirk, der Grossmeister des Hollwood-Melodramas, der 1987 in seiner langjährigen Wahlheimat Lugano im Alter von 89 Jahren verstarb. Das Festival zeigte während seiner zehntägigen Dauer Sirks Gesamtwerk – einen schönen Teil davon auf 35 Millimeter –, einschliesslich der Filme, die er während der Dreissigerjahre in seinem Geburtsland Deutschland unter dem Namen Detlef Sierck drehte, bevor er gemeinsam mit seiner jüdischen Ehefrau in die USA emigrierte. Während gewisse Filme aus dieser Zeit, etwa der mittelmässige «La Habanera» (1937), unverkennbare Zeichen des herrschenden politischen Regimes tragen, bestechen andere – darunter «Stützen der Gesellschaft» (1935) – durch ihre stilsichere Handhabung überkandidelt-melodramatischer Stoffe. Doch die Retrospektive zeigte auch auf, dass Sirk, der von der Kritik erst nach seinem Karriereende so richtig ernst genommen wurde, mit gutem Grund für seine Hollywood-Arbeit berühmt ist. Sein US-Debüt, der für die Vierzigerjahre überraschend brutale Kriegsfilm «Hitler’s Madman» (1943), ist erschütternd in seiner antifaschistischen Verve (und ein klarer Bezugspunkt für Quentin Tarantinos «Inglourious Basterds»); «Has Anybody Seen My Gal» (1952) ist ein Komödien-Geheimtipp; «Magnificent Obsession» (1954) ist ein Paradebeispiel für die wunderbar überhöhte Hollywood-Gegenwelt der Fünfzigerjahre; und «All That Heaven Allows» (1955) verdient es, als eines der ganz grossen Technicolor-Meisterwerke in Erinnerung zu bleiben. Dem Zürcher Filmpodium steht bald auch eine Sirk-Retrospektive ins Haus. Man sollte die Chance nutzen. / Alan Mattli
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Titelbild: (C)FOTOPEDRAZZINI.CH
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