Die indische Filmemacherin Payal Kapadia legt mit «All We Imagine as Light» ein anrührendes und fein beobachtetes Drama vor, das mit seiner zurückhaltenden Erzählung einen kraftvollen politischen Standpunkt formuliert.
«All We Imagine as Light», der zweite Film der indischen Regisseurin und Drehbuchautorin Payal Kapadia («A Night of Knowing Nothing»), beginnt geradezu dokumentarisch: Aus einem fahrenden Auto heraus gefilmte Bilder zeigen Strassenszenen aus den weniger glamourösen Ecken von Mumbai, während auf der Tonspur die Stimmen von echten Frauen zu hören sind, die über ihr Leben in der indischen Mega-Metropole reflektieren. «Ich lebe schon seit 20 Jahren hier», sagt eine. «Aber so richtig zu Hause fühle ich mich noch immer nicht.»
Dieser Gedanke ist so etwas wie das Leitmotiv von Kapadias anderweitig fiktivem Film. Er erzählt von Figuren, die auf der Suche nach einer Perspektive im Leben in die Stadt gezogen sind und mit ihrer Arbeit massgeblich zu ihrem Status als international konkurrenzfähiger Wirtschaftsstandort beitragen, sich aber Tag für Tag mit der Tatsache konfrontiert sehen, dass ebenjene Stadt kein Interesse daran zu zeigen scheint, ihnen das Leben auch nur ein bisschen leichter zu machen.
Da wären etwa Prabha (Kani Kusruti) und Anu (Divya Prabha), die designierten Protagonistinnen, die in einem Krankenhaus als Pflegerinnen arbeiten und gemeinsam eine (zu) enge Wohnung mieten. Ihre Situation mag verhältnismässig stabil sein, doch so richtig unbeschwert und frei ist keine von beiden: Prabhas Gedanken sind bei ihrem Ehemann, der kurz nach der Hochzeit nach Deutschland ausgewandert ist und sich kaum noch meldet, derweil die jüngere Anu heimlich eine Beziehung mit Shiaz (Hridhu Haroon) führt – einem Muslim, der sowohl mit seiner traditionell gesinnten Familie als auch mit der in Indien grassierenden Islamophobie hadert.
Parvaty (Chhaya Kadam) wiederum, eine Arbeitskollegin von Prabha und Anu, steht kurz vor der Obdachlosigkeit, weil ihr baufälliger Tiefpreis-Appartementblock einer Luxusüberbauung für Menschen mit «Klasse» weichen soll. Und Dr. Manoj (Azees Nedumangad) hat sich zwar in die zurückhaltende Prabha verguckt, plant aber gleichzeitig schon seine Abreise, weil er als Malayalam-Muttersprachler das in Mumbai gesprochene Hindi nicht meistern kann.
«‹All We Imagine as Light› ist einer jener wunderbaren Filme, die sich gegen erzählerischen Utilitarismus und für die expressive Anhäufung scharf beobachteter Details entscheiden.»
Fein säuberlich,aufgelöst werden die wenigsten dieser Handlungsstränge in Kapadias Grossstadtrhapsodie. Vielmehr liegt der Fokus von «All We Imagine as Light» auf den kleinen Momenten der Freude, des Glücks, der Klassensolidarität, welche die Figuren einem Mumbai abtrotzen, das augenscheinlich Höheres im Sinn hat als eine Arbeiterschicht, die nicht einen Schicksalsschlag, einen Akt der administrativen Willkür vom Wegfallen jeglicher Existenzgrundlage entfernt ist. Es sind Momente, die im grossen Ganzen zwar wenig bewegen, aber die – wie von einer Figur umschrieben – dem Licht gleichkommen, das man sich eben selber in die Welt träumen muss, wenn man von früh bis spät in einer dunklen Fabrikhalle schuftet.
«All We Imagine as Light» ist einer jener wunderbaren Filme, die sich gegen erzählerischen Utilitarismus und für die expressive Anhäufung scharf beobachteter Details entscheiden. Kapadia wandelt hier auf den Spuren von Kelly Reichardt («Certain Women», «First Cow») und Ryūsuke Hamaguchi («Drive My Car», «Evil Does Not Exist») und lässt ihr Publikum Zeit mit ihren fein herausgearbeiteten Figuren, ihren herausragenden Hauptdarstellerinnen, ihren ausdrucksstarken Schauplätzen und ihren subtil mit Emotionen aufgeladenen Szenen verbringen.
Wenn Prabha nach einem langen Arbeitstag nach Hause kommt, ist das nicht primär ein Glied in einer narrativen Kette, sondern eine Gelegenheit, ihre Lebensumstände genauer kennenzulernen: Ranabir Das‘ Kamera verweilt auf einer trächtigen Katze, für die Prabha und Anu offenbar sorgen; ihr Appartement ist ein trister, klassenspezifischer Zweckbau, dessen Einrichtung dennoch eine unverkennbar persönliche Handschrift trägt; der Umstand, dass Prabha die Katze im Treppenhaus gefunden hat, ist ein Konfliktherd zwischen ihr und ihrer Mitbewohnerin.
Ähnlich verhält es sich mit den Sequenzen, die sich im Krankenhaus abspielen, in dem Prabha, Anu, Parvaty und Manoj arbeiten: Allein der Moment, in dem Anu an ihrem mit allerlei Papieren und Medikamenten zugepflasterten Receptionsarbeitsplatz einer jungen Frau Verhütungsmittel zusteckt, ist eine grossartige Kombination aus evokativer Ausstattung, anregender Figurenzeichnung und schlagkräftigem Kommentar auf weibliche Selbstbestimmung im modernen Indien.
«‹All We Imagine as Light› mag alles andere als eine Liebeserklärung an Mumbai sein, doch Kapadias dynamische Inszenierung zeigt die Stadt nicht nur als unerbittlichen Moloch, sondern betont eben auch die mitunter befreiende Anonymität, die dem urbanen Chaos innewohnt.»
Indem Kapadia Szenen wie diesen Raum zum Atmen gibt, die Zuschauer*innen dazu animiert, die Routinen der Figuren und das suggestive Mienen- und Gestenspiel der Schauspieler*innen aufmerksam zu beobachten, gelingt ihr eine ungewöhnlich zurückhaltende, niemals gezwungen didaktisch wirkende und gerade deshalb ungemein erhellende Milieu- und Charakterstudie.
Ja, selbst das in den Anfangsminuten so ambivalent dargestellte Mumbai erhält durch diesen Erzählstil zusätzliche Tiefe. «All We Imagine as Light» mag alles andere als eine Liebeserklärung an die Stadt sein, doch Kapadias dynamische Inszenierung – besonders ihre faszinierenden, vom Kontrast zwischen Bewegung und Stillstand geprägten Strassenszenen – zeigt sie nicht nur als unerbittlichen Moloch, sondern betont eben auch die mitunter befreiende Anonymität, die dem urbanen Chaos innewohnt: Ergreifend poetisch das Bild von Anu, die sich in einem vollen Zug ein Herz fasst und sich an Shiaz anschmiegt.
«Ein Film über das subversive Potenzial von Gemeinschaft, von interessenübergreifender Solidarität zwischen Gruppen, die an vielen Orten, doch gerade auch in Narendra Modis Indien, oftmals ein Schattendasein fristen.»
Doch die formale und erzählerische Zurückhaltung, die der Film an den Tag legt, sollte nicht etwa als allzu harmonische Belanglosigkeit missverstanden werden. Die Ansammlung von alltäglichen Miniaturen, deren narrative Verbindung zunächst nur eine sehr lose zu sein scheint, verdichtet sich mit zunehmender Filmdauer zu einem unmissverständlich politischen Standpunkt. «All We Imagine as Light» ist ein Film über das subversive Potenzial von Gemeinschaft, von interessenübergreifender Solidarität zwischen Gruppen, die an vielen Orten, doch gerade auch in Narendra Modis Indien – und nicht zuletzt in den ökonomischen Zentren des Landes –, oftmals ein Schattendasein fristen. Seien es nun alleinstehende Frauen, Arbeiter*innen oder linguistische und religiöse Minderheiten: Wie Kapadia in ihrem aussergewöhnlichen Film klarstellt – und schliesslich in einem wunderschönen Schlussbild auf den Punkt bringt –, gebührt ihnen allen ein Platz am gesellschaftlichen Tisch.
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Kinostart Deutschschweiz: 19.12.2024
Filmfakten: «All We Imagine as Light» («പ്രഭയായ് നിനച്ചതെല്ലാം») / Regie: Payal Kapadia / Mit: Kani Kusruti, Divya Prabha, Chhaya Kadam, Hridhu Haroon, Azees Nedumangad, Anand Sami / Frankreich, Indien, Niederlande, Luxemburg, Italien / 115 Minuten
Bild- und Trailerquelle: trigon-film
Im herausragend gespielten «All We Imagine as Light» gelingt es Payal Kapadia, lyrisches Kino ohne didaktische Anwandlungen mit hochaktuellen politischen Untertönen zu kombinieren.
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