Marie Amachoukelis warmherziger Film «Àma Gloria» erzählt von Verlust und Loslassen durch die Augen eines sechsjährigen Pariser Mädchens, das in Kap Verde seine ehemalige Nanny Gloria und deren Familie besucht.
Cléo (Louise Mauroy-Panzani) lebt mit ihrem alleinerziehenden Vater Arnaud (Arnaud Rebotini) in Paris. Eine Art Ersatzmutter hat sie in ihrem Kindermädchen Gloria (Ilça Moreno Zego) gefunden, die sich liebevoll um das Mädchen kümmert. Doch eines Tages erreicht Gloria die unerwartete Nachricht einer familiären Tragödie, woraufhin sie die Stelle in Paris kündigt, um in ihre Heimat Kap Verde – eine Inselgruppe vor Westafrika – zurückzukehren.
Als Cléos Vater mitansehen muss, wie seine Tochter unter der Trennung leidet, erlaubt er ihr, die Sommerferien bei Gloria zu verbringen. Doch Cléos Erwartung, den Sommer über Gloria wieder ganz für sich zu haben, wird von den tatsächlichen Gegebenheiten in Kap Verde getrübt. Denn dort geht für Gloria gerade alles drunter und drüber: Sie muss sich um ihre hochschwangere Tochter Fernanda (Abnara Gomes Varela) und ihren pubertierenden Sohn César (Fredy Gomes Tavares) sowie ihre wirtschaftliche Zukunft kümmern.
Von Gloria nicht mit der gewünschten Aufmerksamkeit bedacht, versucht Cléo, sich mit César anzufreunden. Doch César, der Cléo dafür verantwortlich macht, jahrelang von seiner Mutter getrennt gewesen zu sein, verspürt wenig Lust, sich um das Pariser Mädchen zu kümmern.
Regisseurin Marie Amachoukeli erzählt ihre Geschichte in «Àma Gloria» ganz aus der kindlichen Perspektive Cléos. Visuell setzt sie dabei auf viele Close-ups und vermeidet Weitwinkeleinstellungen, wodurch es ihr gelingt, eine grösstmögliche Nähe zwischen dem Publikum und Cléo herzustellen. Oft füllt Cléos Gesicht das ganze Bild; wir folgen ihrem Blick, nehmen wahr, was sie wahrnimmt. Hie und da streut Amachoukeli animierte Szenen im pastellartigen Look ein, die sowohl erzählerische Lücken schliessen als auch als abstrakte Stimmungsbilder fungieren.
Der starke Fokus auf Cléo funktioniert, da die Figur des Mädchens nicht auf ein paar wenige für Filmkinder typische Merkmale reduziert wird. Stattdessen wird sie als komplexe und widersprüchliche Figur gezeichnet. Cléo, mit ihrem Lockenkopf und der dicken Brille, ist ein lebensfrohes Mädchen, manchmal selbstbewusst, manchmal schüchtern, das zu Tode betrübt sein kann und nicht selten von den eigenen Gefühlen übermannt wird. Sie reagiert sensibel und empathisch auf ihre Umwelt, ist aber eben auch egoistisch – und dieser Egoismus, der sich in einem Besitzanspruch gegenüber Gloria widerspiegelt, spielt dann eben auch eine zentrale Rolle im Laufe des Films.
«Die entwaffnende Ehrlichkeit, mit der Amachoukeli das Mädchen porträtiert, geht Hand in Hand mit dem sensationellen Spiel von Louise Mauroy-Panzani, die mit maximaler Natürlichkeit all die Facetten ihrer Figur vereint.»
Die entwaffnende Ehrlichkeit, mit der Amachoukeli das Mädchen porträtiert, geht Hand in Hand mit dem sensationellen Spiel von Louise Mauroy-Panzani, die mit maximaler Natürlichkeit all die Facetten ihrer Figur vereint und dabei das Herz der Zuschauer*innen erobert und einen gleichsam immer wieder zu überraschen vermag.
Mit dem Fokus auf Cléo und ihre sich verändernde Beziehung zu Gloria verzichtet Amachoukeli darauf, die politischen Aspekte ihrer Geschichte explizit zu thematisieren. Gloria wird zu keiner Zeit als Opfer einer ungerechten Welt dargestellt. Sie ist eine selbstbewusste Protagonistin, die ihr nicht immer leichtes Schicksal in die eigenen Hände nimmt und selbstbestimmt Entscheidungen trifft. Gleichzeitig werden aber die sozioökonomischen Zwänge und Ungleichheiten, die sich hier offenbaren, nicht ausgeblendet. Stattdessen findet Amachoukeli durch Cléos Perspektive einen Blickwinkel auf die Gegebenheiten, der ohne moralisch-politische Wertung auskommt.
«‹Àma Gloria› demonstriert, wie auch in unter 90 Minuten eine Geschichte auf bewegende Weise erzählt werden kann, ohne es an Tiefgang oder Komplexität in der Figurenzeichnung mangeln zu lassen.»
In einer Zeit, in der Filme mit Überlänge die Kinosäle dominieren, fällt «Ama Gloria» mit seinen 85 Minuten zudem angenehm kurz aus – und demonstriert dabei, wie auch in unter 90 Minuten eine Geschichte auf bewegende Weise erzählt werden kann, ohne es an Tiefgang oder Komplexität in der Figurenzeichnung mangeln zu lassen.
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Kinostart Deutschschweiz: 13.6.2024
Filmfakten: «Àma Gloria» / Regie: Marie Amachoukeli / mit: Louise Mauroy-Panzani, Ilça Moreno Zego, Abnara Gomes Varela, Fredy Gomes Tavares, Domingos Borges Almeida, Arnaud Rebotini / Frankreich / 84 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Filmcoopi Zürich AG
«Àma Gloria» erzählt die herzerwärmende Geschichte einer Freundschaft und vom Lernen, loslassen zu können. Der jungen Louise Mauroy-Panzani gelingt eine grossartige Schauspielleistung.
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