Leos Carax, der französische Arthouse-Querkopf hinter so unvergesslichen Filmen wie «Les Amants du Pont-Neuf» und «Holy Motors», hat sich auf eine Kollaboration mit der nicht minder schrägen Art-Pop-Band Sparks eingelassen. Dabei herausgekommen ist «Annette», ein herausfordernder, aber überwiegend erfolgreicher Versuch, auf der Kinoleinwand eine tragische Oper zu inszenieren.
Wer in diesem Jahr bereits das Vergnügen hatte, sich von «The Sparks Brothers» begeistern zu lassen, Edgar Wrights ausladendem Dokumentar-Liebesbrief an Ron und Russell Mael und ihr inzwischen 55-jähriges Bandprojekt Sparks, weiss, wie lange das musikalische Brüderpaar auf den Moment hingearbeitet hat, ganz oben auf einem Spielfilmposter zu stehen. Schon in den Achtziger- und Neunzigerjahren versuchten sie, letztlich vergebens, gemeinsam mit Tim Burton das Manga «Mai, the Psychic Girl» zu verfilmen. Seit mehr als einem Jahrzehnt hegen sie den Wunsch, ihr Radio-Musical «The Seduction of Ingmar Bergman» auf die Leinwand zu übertragen. Doch bislang reichte es für die Maels im Kino nur für Soundtrack-Kreationen und Gastauftritte.
Umso kathartischer, die beiden Herren in ihren Mittsiebzigern am Anfang von «Annette» zu sehen, wie sie, gemeinsam mit Regisseur Leos Carax, Hauptdarsteller Adam Driver, Hauptdarstellerin Marion Cotillard und Nebendarsteller Simon Helberg (bekannt als Howard Wolowitz aus «The Big Bang Theory»), einer Strasse in Los Angeles entlanglaufen und die wunderbare Ouvertüre «So May We Start» in die Kamera schmettern. Ron und Russell Mael haben sich ihren Kinotraum endlich erfüllen können: «Annette» erzählt eine von ihnen ersonnene Geschichte, deren Herzstück ihre eigens für den Film komponierten Originalsongs sind.
«Ron und Russell Mael (Sparks) haben sich ihren Kinotraum endlich erfüllen können: ‹Annette› erzählt eine von ihnen ersonnene Geschichte, deren Herzstück ihre eigens für den Film komponierten Originalsongs sind.»
Gleichzeitig passt das verquere Musical mit seinen mitreissenden, spartanisch getexteten Liedern aber auch perfekt in die illustre Filmografie von Leos Carax. Nach «Boy Meets Girl» (1984), «Mauvais Sang» (1986), «Les Amants du Pont-Neuf» (1991), «Pola X» (1999) und «Holy Motors» (2012) ist auch «Annette» eine ironisch gebrochene, letztlich todtraurige Romanze. Hier trifft es den provokanten Schock-Comedian Henry McHenry (Driver) und die gefeierte Operndiva Ann Defrasnoux (Cotillard): Die beiden verlieben sich – die Klatschpresse hat gar kein Verständnis –, heiraten, bekommen ein Kind. Dass das Mädchen mit Namen Annette eine hölzerne Marionette ist, scheint niemandem aufzufallen. Viel schlimmer ist der Graben, der sich zwischen den beiden Liebenden öffnet: Während Anns Karriere floriert, kommt dem aufbrausenden Henry immer mehr kulturelle Relevanz abhanden.
«Annette» ist kein Film, in den man sich Hals über Kopf verliebt – aber das war auch nicht zu erwarten: Sparks ist eine Band, die sich geradezu krankhaft um eine stabile Fanbasis bringt, indem sie sich alle paar Jahre von Grund neu erfindet (und auf Forderungen nach tanzbareren Melodien ein Album namens «Music That You Can Dance to» aufnimmt); derweil Carax‘ Auffassung von Romantik von Desillusionierung und Zynismus getränkt ist. Liebe, so schön und schwelgerisch sie auch sein kann, ist bei ihm nicht selten der Ursprung grösserer Probleme.
«‹Annette› ist kein Film, in den man sich Hals über Kopf verliebt – aber das war auch nicht zu erwarten.»
Folgerichtig widersetzt sich dieser Film konsequent den Erwartungen, die man als Kinogänger*in wohl an ihn heranträgt. Die wenigsten Lieder sind Ohrwürmer; sehr oft bestehen sie hauptsächlich aus Variationen einzelner Textzeilen («We Love Each Other So Much», «Six Women Have Come Forward»), oder sie verwischen gar die Trennlinie zwischen Dialog und Gesang – etwa in den beiden herausragenden Simon-Helberg-Soli «I’m an Accompanist» und «The Conductor».
An die Stelle von realistisch dargestellten Situationen und Emotionen wiederum treten Stilisierungen, Überhöhungen, dramatische Verkürzungen, operatische Verlangsamungen. Die stürmische Liebe von Henry und Ann schlägt innert kürzester Zeit ins gegenteilige Extrem um, bevor sich der Konflikt in einem atemberaubenden, hemmungslos tragischen Duett entlädt. Henrys bizarrem Stand-Up-Programm werden zwei ausgedehnte Sequenzen gewidmet, in denen Carax herrlich mit der Grenze zwischen erzählerischer und musikalischer Realität spielt. Der dritte Akt vollführt einen gewagten Schlenker und geriert sich als melodramatisches Musik-Biopic mit märchenhaftem Moralfabel-Anstrich. Driver, Cotillard und Helberg sprechen und singen in Deklamationen, in überspitzten Gefühlslagen – und spielen damit ihre Rollen weniger als Figuren denn als Archetypen.
Es kann nicht verwundern, dass ein Film, der dermassen gezielt aneckt, nicht über jeden Zweifel erhaben ist. Nach einem mitreissenden Anfang wartet «Annette» mehrfach mit eher repetitiven Passagen auf, in denen selbst Carax‘ und Sparks‘ Experimentierfreude nicht für den narrativen Leerlauf entschädigt. Letztendlich sind 140 Minuten eben doch eine stattliche Länge für ein Singspiel für vier Figuren, das – trotz seiner offenkundigen Liebe für die berückend pompöse Emotionalität der Oper, trotz seines berührenden Ausgangs – auch ein augenzwinkerndes Anti-Musical sein will.
«‹Annette› ist ein ganz besonderes Vergnügen in einem Kinojahr, dem es an Musicals – von ‹In the Heights› über Netflix‘ ‹tick, tick… BOOM!› bis hin zu Steven Spielbergs hervorragendem ‹West Side Story›-Remake – wahrlich nicht fehlt.»
Dennoch ist «Annette» ein ganz besonderes Vergnügen in einem Kinojahr, dem es an Musicals – von «In the Heights» über Netflix‘ «tick, tick… BOOM!» bis hin zu Steven Spielbergs hervorragendem «West Side Story»-Remake – wahrlich nicht fehlt. Hier trifft ironische Brech(t)ung auf inbrünstige Verehrung für eine oft parodierte Kunstform, eine absurde Fantasie auf eine klassische Liebestragödie, eine intime Geschichte auf eine immer wieder überwältigend einfallsreiche Inszenierung, Carax auf Sparks. Wer sich davon überzeugen lassen will, wie lebendig das filmische Musical immer noch ist, kommt um «Annette» nicht herum.
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Kinostart Deutschschweiz: 30.12.2021
Filmfakten: «Annette» / Regie: Leos Carax / Mit: Adam Driver, Marion Cotillard, Simon Helberg / Frankreich, Deutschland, Belgien, USA, Mexiko, Japan, Schweiz / 140 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © Filmcoopi
Mit seiner Mischung aus Musical-Parodie, Opern-Hommage und der kombinierten Exzentrik von Sparks und Leos Carax eckt «Annette» an. Den Kinobesuch ist das irre Singspiel aber definitiv wert.
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