«Anora», der in Cannes mit der Palme d’or ausgezeichnete neue Film von «The Florida Project»-Regisseur Sean Baker, ist sowohl ein mässig erfolgreiches satirisches Drama als auch eine fantastische Komödie.
Wer den US-amerikanischen Filmemacher Sean Baker kennt, kennt ihn höchstwahrscheinlich durch seinen bis dato wohl grössten kritischen Erfolg: das Drama «The Florida Project» (2017) über ein sechsjähriges Mädchen und dessen alleinerziehende Mutter, die zusammen in einem heruntergekommenen Hotel am Rande des Disney World wohnen und versuchen, trotz ihrer Armut ein schönes Leben zu führen. Thematisch mag dieser Film zwar durchaus zum Rest von Bakers Schaffen passen – sein Werk ist gezeichnet von Geschichten über Menschen, nicht selten Sexarbeiter*innen, an der gesellschaftlichen Peripherie –, doch in Sachen Tonfall fällt der einfühlsame, durch Kinderaugen erzählte, mal anrührend melancholische, mal herzerwärmend lebensbejahende «The Florida Project» ein wenig aus dem Rahmen.
Viel repräsentativer sind da Filme wie «Tangerine» (2015), eine genüsslich überkandidelte Groteske über zwei Trans-Sexarbeiterinnen, die an Heiligabend eine Odyssee durch Hollywood in Angriff nehmen, oder «Red Rocket» (2021), eine tiefschwarze Komödie, in der ein abgehalfterter Pornostar in seinem texanischen Heimatort eine 17-Jährige zum Eintritt ins Sexfilmgeschäft verleiten will. Und auch Bakers neuester Film, der in Cannes mit der Palme d’or ausgezeichnete «Anora», folgt dieser «wilderen» Tonalität – und riskiert damit den Verlust weiterer Fans, die durch «The Florida Project» zum Regisseur, Autor, Produzenten und Editor gefunden haben.
Irgendwo zwischen der angespannten Atemlosigkeit von «Uncut Gems» (2019) und dem absurden New York von Martin Scorseses «After Hours» (1985) erzählt «Anora» von der titelgebenden Ani (Mikey Madison), die in einem Stripclub in Brooklyn arbeitet. Eines Abends macht sie Bekanntschaft mit einem ihrer jüngeren Kunden, dem 21-jährigen russischen Oligarchensohn Vanya (Mark Eydelshteyn), der so begeistert von ihr ist, dass er sie sogleich zum privaten Schäferstündchen in seine New Yorker Villa bittet. Ani willigt ein – reiche Schnösel zahlen gut –, und schon bald entwickelt sich das Stelldichein zu einer veritablen Wirbelwindromanze.
Diese könnte für Ani endlich finanzielle Sicherheit und für den vom amerikanischen Lebensstil begeisterten Vanya eine US-Greencard bedeuten – doch das junge Paar hat da die Rechnung ohne die Handlanger Toros (Karren Karagulian), Garnick (Vache Tovmasyan) und Igor (Yura Borisov) gemacht, die von Vanyas in Russland weilenden Eltern abkommandiert wurden, um dafür zu sorgen, dass sich die hedonistischen Exzesse ihres Sohnemanns in respektablen Grenzen halten.
«Wie immer hält sich Baker auch damit zurück, das Geschehen auf der Leinwand explizit zu werten. Das hat in der Vergangenheit mitunter zu Kontroversen geführt, ist aber oft auch eine der Stärken seiner Filme.»
Wie immer bei Baker ist auch «Anora» vieles auf einmal: eine Milieustudie über die Stripper*innen-Szene und die russisch-orthodoxe Diaspora in Brooklyn, eine Satire über die Kollision von Arbeiter*innen- und Oberschicht, ein emotional aufgeladenes Charakterdrama, eine chaotische Slapstick-Komödie, eine Art Coming-of-Age-Geschichte, eine überbordende Screwball-Farce, in der sich die Figuren in einer Lautstärke anschreien, wie man sie sonst nur aus US-Realityshows kennt.
Und wie immer hält sich Baker auch damit zurück, das Geschehen auf der Leinwand explizit zu werten. Das hat in der Vergangenheit mitunter zu Kontroversen geführt, ist aber oft auch eine der Stärken seiner Filme: Man mag sich am schmierigen, manipulativen, himmelschreiend toxischen Protagonisten von «Red Rocket» stossen, aber es ist nicht zuletzt diese unbeqeueme Nähe, die dem Publikum zugemutet wird, die zu galliger Komik und anregend herausfordernden Charakterstudien führen.
Die Kehrseite dieser Herangehensweise ist aber auch, dass Bakers Figuren und Geschichten kaum je über den Tellerrand ihrer jeweiligen Erzählsituation hinausblicken. «Take Out» (2004), «Prince of Broadway» (2008), «Starlet» (2012), «Tangerine», «The Florida Project», «Red Rocket» – das alles sind Filme, die sich auf die eine oder andere Weise mit dem amerikanischen Klassensystem auseinandersetzen, die sich aufdrängende Systemkritik aber hauptsächlich angedeutet lassen und sich stattdessen auf die individuellen Schwächen ihrer Protagonist*innen in prekären Lebensverhältnissen konzentrieren. (Vielleicht hat sich «The Florida Project» gerade deshalb als besonders beliebt erwiesen: Mit seinem grossflächigen Verzicht auf Bakers schrägen Sinn für Humor verhält er sich eher wie ein klassisches Festivaldrama und kann sich so dem potenziellen Vorwurf entziehen, dass er sich über seine Figuren lustig macht.)
«‹Anora›, das merkt man schon an seiner 140-minütigen Laufzeit, ist als grosses künstlerisches Statement konzipiert – und als solches enthält es Elemente, die in Bakers bisherigem Schaffen überwiegend durch Abwesenheit glänzten.»
Für «Anora» ist diese Spannung in Bakers Werk relevant, weil sich sein neuester Film an einem ambitionierten, nicht hundertprozentig erfolgreichen Balanceakt versucht. «Anora», das merkt man schon an seiner 140-minütigen Laufzeit, ist als grosses künstlerisches Statement konzipiert – und als solches enthält es Elemente, die in Bakers bisherigem Schaffen überwiegend durch Abwesenheit glänzten: Ani, anders als die Protagonistinnen von «Tangerine» und «The Florida Project» etwa, bleibt nicht in ihrem angestammten Umfeld hängen, sondern kämpft sich im Laufe des Films – zumindest vorübergehend – in Vanyas Welt aus Luxusvillen, Privatjets und Bediensteten vor. Mit anderen Worten: Sie durchbricht die Barriere zwischen Unterschicht und Hautevaulee und wird schliesslich Zeugin, mit welcher Verachtung Letztere auf Erstere blickt und mit welchen Mitteln Erstere dafür sorgt, dass Letztere da bleibt, «wo sie hingehört».
Das klingt verdächtig nach satirischer Systemkritik. Doch «Anora» ist gleichzeitig eben auch eine Komödie, die mit einer gewissen ironischen Distanz von Anis absurder Reise von der Stripperin zur Milliardärsgattin (und wieder zurück) erzählt und in der sich alle Beteiligten überhöht dumm anstellen, von der naiv-sturköpfigen Ani über die tollpatschigen Toros, Garnick und Igor bis hin zum kindisch-verzogenen Vanya.
Und es ist diese Kombination, die Baker nicht vollauf gelingt. Zwar ist bis zuletzt unmissverständlich klar, dass die Sympathien des Films bei Ani – und, zu einem gewissen Grad, beim missverstandenen, ihr überraschend geistesverwandten Igor – liegen, doch die offenbar angestrebte Mischung aus bissiger Gesellschaftskritik und einfühlsamer Charakterstudie fällt letztlich zu zahm, zu lückenhaft, zu generisch aus. Die Darstellung der gut betuchten Elite bleibt bei den bekannten Klischees reicher Russ*innen; und wenn Ani in den letzten Momenten des Films, nach einem in jeglicher Hinsicht aufwühlenden Abenteuer, weinend zusammenbricht, dann hinterlässt das keinen sonderlich tiefen Eindruck, weil die typische emotionale Entrücktheit von Bakers Erzählung das Publikum fast zweieinhalb Stunden daran gehindert hat, die Protagonistin gut genug kennenzulernen, um diesen dramatischen Höhepunkt stimmig wirken zu lassen.
«Sosehr der Film als Drama hinkt, als Komödie stellt er einmal mehr Bakers beträchtliche Qualitäten in diesem Genre unter Beweis.»
Doch obwohl «Anora» seinen eigenen hohen Ansprüchen nicht ganz gerecht wird, wäre es falsch, das ganze Projekt deshalb als Fehlschlag zu taxieren. Im Gegenteil: Sosehr der Film als Drama hinkt, als Komödie stellt er einmal mehr Bakers beträchtliche Qualitäten in diesem Genre unter Beweis.
Das äussert sich zum einen in der Inszenierung. Baker, mehr als so mancher «Komödienexperte» – Stichwort: Judd Apatow («Trainwreck», «The King of Staten Island») oder Ruben Östlund («The Square», «Triangle of Sadness») –, ist enorm begabt darin, eine bereits auf der Drehbuchseite witzige Szene mit dem Zusammenspiel von seinem Schnitt, seiner Nutzung des filmischen Raums und den Bewegungen von Drew Daniels‘ Kamera noch lustiger zu machen. Ein abrupter Schwenk oder unerwartet zackiger Zoom hier, eine überraschende Erweiterung eines Schauplatzes durch eskalierende Figureninteraktionen da, und fertig sind einige der besten komödiantischen Sequenzen der jüngeren Vergangenheit.
Zum anderen kann Baker auf einen wunderbar motivierten Cast zurückgreifen, der von einer hervorragend manisch aufspielenden Mikey Madison («Better Things», «Once Upon a Time in Hollywood») angeführt wird. Madison spielt Ani als nimmermüden Dynamo, als eine selbstsichere Frau, die sich an einen Alltag gewöhnt hat, in dem sie zu fast jedem Zeitpunkt genug Energie, Charme und Kratzbürstigkeit an den Tag legen muss, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen und dabei nicht übers Ohr gehauen und – die tragische Realität des Stripperinnendaseins – nicht angegrapscht oder gar vergewaltigt zu werden. Die Charakterisierung, die der Figur in Bakers Skript fehlt, wird ihr durch Madisons faszinierende, im besten Sinne ermüdende Performance schauspielerisch injiziert.
Entsprechend gut funktioniert sie zusammen mit dem schweigsamen Yura Borisov («Compartment No. 6») und dem heillos überforderten, herrlich trantütigen Schergenduo Karren Karagulian und Vache Tovmasyan. Die ausgedehnte Szene, in der die drei der renitenten Ani mitteilen, dass ihre Beziehung mit Vanya ein Ende zu finden hat, und von der zierlichen Dame nach allen Regeln der Kunst vermöbelt werden (und dabei auch einiges an wertvollem Inventar in die Brüche geht), ist ein kleines Slapstick-Meisterwerk, das gleich mehrmals an die haarsträubenden Zerstörungsorgien von Stan Laurel und Oliver Hardy erinnert.
«Buchstäblich schlagkräftige Komik ist vorprogrammiert.»
Umso willkommener ist da der lange Mittelteil des Films, in dem sich Ani, Igor, Toros und ein arg lädierter Garnick widerwillig zusammenraufen müssen, um Brooklyns Clubszene nach dem ausgeflogenen Vanya abzuklappern. Hier befindet sich Baker in seinem urkomischen Element: Seine Figuren sind verzweifelt und frustriert, weil sie auf eine scheinbar unmögliche Deadline – das baldige Eintreffen von Vanyas Eltern – hinarbeiten; sie zanken sich in ihrer viel zu grossen Protzkarre untereinander; Toros fürchtet um seinen Job und vielleicht sogar sein Leben; ein vor lauter Schmerzen und Schmerzmitteln zunehmend delirierender Garnick will zurück nach Armenien; Ani weigert sich, ihre Beziehung ohne Gegenwehr aufzugeben, will Vanya aber gleichzeitig die Leviten lesen; und zwischendurch wird am Brighton Beach ein Süssigkeitenladen aufgemischt, eine Gruppe junger Armenien-Amerikaner angepöbelt und einem Mann vom Abschleppdienst die Nachtschicht gehörig versaut. Buchstäblich schlagkräftige Komik ist vorprogrammiert.
«Das Ganze ist schlicht zu lustig, zu formal virtuos und zu einnehmend gespielt, um von den Schwächen in Bakers Vision aus der Bahn geworfen zu werden.»
Es sind diese Sequenzen, die den Umstand, dass «Anora» als Drama einige Defizite aufweist, nicht nur abfedern, sondern sogar vergessen machen. Das Ganze ist schlicht zu lustig, zu formal virtuos und zu einnehmend gespielt, um von den Schwächen in Bakers Vision aus der Bahn geworfen zu werden. Insofern ist «Anora» vielleicht sogar eine Bestätigung dafür, dass Bakers Entscheidung, nach «The Florida Project» zur Komödie zurückzukehren, die richtige war: Denn so kann er, selbst wenn seine Filme dramatisch und satirisch straucheln, auf sein vielleicht grösstes filmemacherisches Ass zurückgreifen – dass es derzeit nur wenige grosse US-Regisseur*innen gibt, die ihr Publikum so gekonnt zum Lachen bringen können.
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Kinostart Deutschschweiz: 31.10.2024
Filmfakten: «Anora» / Regie: Sean Baker / Mit: Mikey Madison, Mark Eydelshteyn, Yura Borisov, Karren Karagulian, Vache Tovmasyan, Darya Ekamasova, Aleksei Serebryakov / USA / 139 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © 2024 Universal Studios. All Rights Reserved.
Sean Bakers Versuch, «Anora» sowohl Drama als auch Satire als auch Komödie sein zu lassen, ist nicht vollumfänglich erfolgreich. Komödiantisch jedoch ist ihm ein Volltreffer gelungen.
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