Die Volksrepublik China hat in den letzten 20 Jahren weitreichende wirtschaftliche und soziale Veränderungen durchgemacht. In seinem neuen Film, dem vielschichtigen Drama «Ash Is Purest White» erweist sich Regisseur Jia Zhangke einmal mehr als vielleicht wichtigster Chronist dieser Umwälzungen.
«I am large, I contain multitudes», heisst es in Walt Whitmans Gedicht «Song of Myself». Ob Jia Zhangke davon weiss, ist nicht bekannt – doch es steht fest, dass seine Vision von China stark an Whitmans Diktum erinnert. Sein Heimatland, wie er es in seinen Filmen mit der Kamera ausmisst, ist gross, offen und geprägt von unzähligen Einzelschicksalen, die sich oft nur in einem Punkt gleichen: dass man letzten Endes den staatlichen und gesellschaftlichen Mechanismen der Volksrepublik nicht entfliehen kann.
«Still Life» (2006), für den Jia den Hauptpreis bei den Filmfestspielen von Venedig gewann, erzählt von zwei Menschen, die vor dem Hintergrund des kontroversen Drei-Schluchten-Staudamms nach ihren Partnern suchen. «A Touch of Sin» (2013), Gewinner des Drehbuchpreises in Cannes, ist eine Sammlung von faktenbasierten Geschichten über Chinesen, die sich verzweifelt gegen ihre Lebensumstände auflehnen. Und mit «Mountains May Depart» (2015) legte Jia zuletzt eine unverblümte nationale Bestandsaufnahme vor: eine dreiteilige Familiengeschichte, angesiedelt zwischen 1999 und 2025, in der selbst die intimsten Angelegenheiten der Volkswirtschaft untergeordnet sind – versinnbildlicht durch den Vater, der darauf besteht, seinen neugeborenen Sohn Daole («Dollar») zu nennen.
«Ash Is Purest White» wirkt wie eine Synthese dieser Ansätze – ein faszinierender, schauplatzreicher, thematisch komplexer Genre-Hybrid mit drei Zeitebenen und einer schicksalhaften Liebesgeschichte als Herzstück. Der Film dreht sich um Qiao (die grandiose Zhao Tao), die selbstbewusste und gerissene Freundin des Provinz-Mafiosos Bin (Liao Fan), dessen Vormachtstellung von rivalisierenden Banden angefochten wird.
Es wäre nicht allzu überraschend gewesen, wenn Jia, der in den letzten Jahren – insbesondere in «A Touch of Sin» – eine Affinität zur Wuxia-Kampfkunst-Tradition im chinesischen Kino entdeckt zu haben scheint, diese Prämisse in einen hartgesottenen Gangsterthriller irgendwo zwischen Martin Scorsese und «John Wick» (2014) hätte münden lassen. Tatsächlich spielt die beste Szene von «Ash Is Purest White» in diesem Modus – ein packend, weil spartanisch choreografierter Angriff auf Bins und Qiaos Auto, ob dessen Intensität einem der Atem stockt.
Doch Jias China «contains multitudes» – und somit ist dies nur ein Versatzstück in einem herausragend inszenierten Film, der im weiteren Verlauf noch zum romantischen Melodram im Stile von «In the Mood for Love» (2000) und «Cold War» (2018), zum Sozialdrama und sogar kurz zum Science-Fiction-Abenteuer mutiert.
«Eine Reise durch ein Land auf der Suche nach sich selbst.»
Es ist eine Reise durch ein Land auf der Suche nach sich selbst, verkörpert durch Qiao, die sich nach einem Gefängnisaufenthalt in eine Gesellschaft wiedereingliedern muss, die ohne sie vorangeschritten ist, und Bin, der an den neuen Begebenheiten langsam zugrunde zu gehen scheint. Dieses Porträt – grossartig bebildert von Kameramann Eric Gautier – ist oft tragisch, ja, aber auch gespickt mit feinem, menschlichem Humor und berührenden Momenten der Zärtlichkeit, sodass man die absolut notwendige Zweitvisionierung nur zu gerne in Angriff nimmt.
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Kinostart Deutschschweiz: 2.5.2019
Filmfakten: «Ash Is Purest White» («江湖兒女», «Jiānghú érnǚ») / Regie: Jia Zhangke / Mit: Zhao Tao, Liao Fan / China / 136 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Filmcoopi Zürich AG
Packend erzählt, emotional intensiv und visuell virtuos: Der vielschichtige «Ash Is Purest White» zeigt, warum Jia Zhangke zu den besten Regisseuren der Gegenwart gehört.
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