In ihrem Langspielfilmdebüt nimmt sich die französisch-senegalesische Schauspielerin und Regisseurin Mati Diop grosse Themen auf ungewöhnliche Weise vor: «Atlantique» ist eine subtile Schauergeschichte über Liebe, Kapitalismus, Migration und den langen Schatten des Kolonialismus.
In einem Vorort von Dakar ist ein gigantisches Bauprojekt im Gange: Ein futuristischer Turm, der an die opulenten Pracht-Wolkenkratzer von Dubai erinnert, soll fortan die Skyline der senegalesischen Hauptstadt prägen und zeigen, dass man sich in Sachen Prestige-Architektur an der westafrikanischen Atlantikküste durchaus mit den Emiraten am Persischen Golf messen kann. Doch wie in Dubai, Abu Dhabi und Katar, deren glänzende Glasfassaden das Resultat moderner Sklaverei sind, strahlt auch hier der Prunk nicht auf die Arbeiter ab, die den Stahlkoloss aus dem Boden gestampft haben: Seit Monaten bleibt der Lohn aus; die Nerven liegen blank. Aus Verzweiflung besteigt eine Gruppe von Arbeitern, darunter der junge Souleiman (Ibrahima Traoré), eines Nachts ein Boot, um auf dem Seeweg das ferne Spanien zu erreichen. Zurück bleiben die Frauen, deren Familien darauf warten, sie gewinnbringend verheiraten zu können. Eine davon ist Ada (Mame Bineta Sané), Souleimans Freundin, die mit einem reichen Investor (Babacar Sylla) verlobt ist.
Was sich im Zuge von Souleimans abrupter Abreise und Adas bevorstehender Hochzeit abspielt, sei hier nicht im Detail verraten. Fest steht jedenfalls, dass Regisseurin Mati Diop dabei thematisch sämtliche Register zieht: «Atlantique» ist ein Film über die Schnittstellen zwischen Leben und Tod, Vergangenheit und Gegenwart, Afrika und Europa.
«‹Atlantique› ist ein Film über die Schnittstellen zwischen Leben und Tod, Vergangenheit und Gegenwart, Afrika und Europa.»
Schon der Titel ist programmatisch: Kaum eine Sequenz vergeht, ohne dass sich der Atlantische Ozean in irgendeiner Form bemerkbar macht – viele Szenen spielen am Strand; mal droht die tosende Brandung, einen Dialog zu übertönen; mal verweilt die Kamera von Claire Mathon («Portrait de la jeune fille en feu») auf der im Meer versinkenden Sonne. Diese Affinität ist kein rein ästhetischer Kniff, sondern eine bewusste Beschwörung historischer, politischer und kultureller Assoziationen: Hier wird eine direkte Linie gezogen zwischen modernen Migranten wie Souleiman, die auf der Suche nach einer besseren Zukunft in den Wellen verschwinden, und den Opfern des transatlantischen Sklavenhandels – jenen Abermillionen von Afrikaner*innen, die während 400 Jahren verschleppt, verkauft und ermordet wurden. «Auf dem Grund des Atlantischen Ozeans verläuft eine Schiene aus menschlichen Knochen», schrieb einst der amerikanische Dichter Amiri Baraka. Es könnte das Geleitzitat von «Atlantique» sein.
Bisweilen kommen sich Diop und Co-Autor Olivier Demangel mit ihrem umfassenden Fokus selber ein wenig in die Quere. Diverse Nebenplots mit skizzenhaften Figuren treiben zwar die subtil vorgetragene Handlung voran, wirken aber angesichts der ungemein atmosphärischen Szenen mit Ada im Zentrum wie unnötiger Ballast.
«Die Geschichte um Ada, Souleiman und die wirtschaftlichen Zwänge, die sie in die Arme des gnadenlosen Atlantiks treiben, greift Diop Mambétys sozialrealistische Romanze auf und erweitert sie zu einer eindringlichen postkolonialen Geistergeschichte.»
Dennoch überzeugt «Atlantique» als originelle Variation auf den senegalesischen Klassiker «Touki Bouki», den Diops Onkel Djibril Diop Mambéty 1973 in Cannes präsentierte: Die Geschichte um Ada, Souleiman und die wirtschaftlichen Zwänge, die sie in die Arme des gnadenlosen Atlantiks treiben, greift Diop Mambétys sozialrealistische Romanze auf und erweitert sie zu einer eindringlichen postkolonialen Geistergeschichte.
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Kinostart Deutschschweiz: 31.10.2019
Filmfakten: «Atlantique» / Regie: Mati Diop / Mit: Mame Bineta Sané, Ibrahima Traoré, Amadou Mbow, Nicole Sougou, Aminata Kané, Mariama Gassama, Babacar Sylla / Senegal, Belgien, Frankreich / 105 Minuten
Bild- und Trailerquelle: trigon-film
Obwohl «Atlantique» mit einer etwas fokussierteren Handlung noch besser hätte sein können, beeindruckt Mati Diops Regiedebüt mit effektiver Atmosphäre und politischer Schärfe.
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