Eine Frau kommt in eine Bar und bestellt einen Tee. Nein, so beginnt kein schlechter Witz des aufstrebenden Stand-up-Comedians Donny Dunn, sondern sein ganz persönlicher Horror. Die fesselnde Netflix-Miniserie «Baby Reindeer» bewegt sich irgendwo zwischen Thriller, Drama und schwarzer Komödie – und erzählt die wahre Stalking-Geschichte von (und mit) Richard Gadd.
Geht es nach Hollywood, existiert Stalking genau in zwei Formen: erotisch aufgeladenem Mystery («You») oder eiskaltem Horror («Creep»). Der britische Überraschungshit «Baby Reindeer» zeigt, dass es in Wahrheit vor allem eines ist: eine ernstzunehmende psychische Erkrankung – vergleichbar mit einer endlosen, schwindelerregenden Berg- und Talfahrt. Entsprechend ist hier eine Trigger-Warnung angebracht: Die Serie thematisiert sexualisierte Gewalt, psychischen Terror und Drogenmissbrauch.
Beim ersten Aufeinandertreffen von Donny (Richard Gadd) und Martha (Jessica Gunning) ist eine derartige Eskalation kaum vorstellbar. Er ist ein Durchschnittstyp, der abwechselnd hinter dem Tresen eines Pubs und auf kleinen Comedy-Bühnen steht. Sie gibt sich als erfolgreiche Anwältin aus. Ein kurzer Flirt, eine offerierte Tasse Tee – und schon ist es zu spät. Der bedeutungslose Schwatz entwickelt sich für Martha zur krankhaften Obsession und sie wird von der charismatischen Bekanntschaft zum besessenen Fan. In Zahlen heisst das: 40’000 Mails, 106 Briefe und mehr als 350 Stunden Sprachmemos. Echte Auszüge davon gibt es sogar in der Serie zu sehen.
Neben der Tatsache, dass Richard Gadd sein eigenes Trauma ein zweites Mal vor der Kamera durchlebt, zeichnet sich «Baby Reindeer» in erster Linie durch die verworrene Dynamik zwischen den beiden Hauptfiguren aus. Inszeniert als nervenaufreibendes Katz-und-Maus-Spiel, hüpft die Sympathie laufend hin und her (oder bleibt ganz aus). Martha lauert Donny auf, sabotiert seine Comedy-Shows und überschreitet immer extremere Grenzen. Dieser wiederum nutzt seine Peinigerin teilweise regelrecht aus, um die eigene Unsicherheit zu kompensieren.
«Der bedeutungslose Schwatz entwickelt sich zur krankhaften Obsession. In Zahlen heisst das: 40’000 Mails, 106 Briefe und mehr als 350 Stunden Sprachmemos.»
Das macht nicht nur die beiden, sondern auch das Publikum verrückt. Wer trägt hier die Schuld? Wie soll das weitergehen? Wo führt das hin? Daraus resultiert ein intensives Wechselbad der Gefühle, bei dem man abwechselnd Tränen vergiesst, überfordert lacht oder sich ungläubig die Augen reibt.
«Baby Reindeer» ist aber mehr als die Wiedergabe eines realen Stalking-Falls. Richard Gadd verarbeitet in seiner Serie weitere persönliche Erlebnisse, die diese schwierige Zeit prägten – vom langjährigen Kampf mit der eigenen Sexualität bis zur gnadenlosen Ausbeutung im Showbusiness. So überrascht es, wie vielschichtig, selbstkritisch und verletzlich die Serie geschrieben ist. Das zeigt sich auch in Gadds Umgang mit seiner Stalkerin: Trotz zahlreicher, teils furchteinflössender Vorfälle stellt er sie weder als Monster noch als Hexe dar und gesteht sich sogar eine gewisse Mitschuld ein.
«Es überrascht, wie vielschichtig, selbstkritisch und verletzlich die Serie geschrieben ist. Das zeigt sich auch in Gadds Umgang mit seiner Stalkerin.»
Und doch bleibt selbst nach dieser differenzierten Auseinandersetzung am Schluss die Frage, ob dieses Projekt ethisch gesehen den Bogen nicht etwas zu sehr überspannt. Immerhin beleuchtet «Baby Reindeer» nur eine Seite der Geschichte – und führt die andere ohne Einverständnis und Mitspracherecht vor. Aus diesem Grund hat sich die «echte» Martha (die übrigens alles vehement abstreitet) mittlerweile in Form eines kuriosen Interviews im britischen Fernsehen zu Wort gemeldet. Dieses zeigt nicht nur, wie unglaublich gut Jessica Gunning ihre Rolle verkörpert – sondern eben auch, dass betroffene Menschen kein Rampenlicht, sondern in erster Linie Hilfe brauchen.
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Jetzt auf Netflix Schweiz
Serienfakten: «Baby Reindeer» / Creator: Richard Gadd / Mit: Richard Gadd, Jessica Gunning, Nava Mau, Tom Goodman-Hill / Grossbritannien / 7 Episoden à 27-45 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Netflix © 2024
Für die Aufarbeitung seiner Geschichte verdient Richard Gadd höchsten Respekt und hat mit «Baby Reindeer» eine erschütternde Miniserie geschaffen, die noch lange nachhallt.
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