«La La Land»-Regisseur Damien Chazelle kehrt in seinem neuesten Film nach Hollywood zurück: «Babylon» zeigt den Aufstieg und Fall mehrerer Figuren während des Übergangs vom Stumm- zum Tonfilm in den späten 1920er Jahren. Es ist eine Liebeserklärung an die Filmindustrie, die ganz und gar nicht lieblich wirkt.
«Welcome to the asshole of Los Angeles» – ein Satz, der in einem Film über die Goldenen Jahre von Hollywood ein wenig unpassend wirken mag. Aber vielleicht ist «Babylon» genau das: ein Film, der unpassend wirkt. Damien Chazelles neuestes Werk spannt sich über drei Stunden Laufzeit und zeigt ein blutjunges, dafür umso irreres Hollywood im frühen 20. Jahrhundert – eine Zeit, in der die Filme noch stumm waren, die Partys dafür umso lauter. Und mittendrin suchen Brad Pitt und Margot Robbie nach einem tieferen Sinn im Leben.
Für das Publikum bleibt indes leider kaum Zeit für Sinnstiftendes, denn «Babylon» lässt kaum Verschnaufpausen zu. Im Gegenteil: Der Film zeigt ein nicht enden wollendes Spektakel voller Drogen, Sex, aber auch überraschend viel Pipi und Kacka. Da das – gar nicht überraschenderweise – ziemlich anstrengend ist, sollte man sich fragen, ob man einen Film über das Arschloch von Los Angeles tatsächlich sehen will.
Regisseur Chazelle wollte dieses filmische Rektum jedoch unbedingt zeigen, so viel ist klar. Nachdem Hollywoods Wunderkind drei Meisterwerke nacheinander gelandet hat – «Whiplash» (2014), «La La Land» (2016) und «First Man» (2018) –, soll nun sein Opus magnum folgen: «Babylon», seine Liebeserklärung an die Filmindustrie. Doch niemand wollte den Film; kein Filmstudio gab dem Projekt grünes Licht – obschon Chazelle mit nur 32 Jahren einen Oscar für die beste Regie ergattert hatte und seine Filme sowohl vom Publikum als auch von Kritiker*innen geliebt werden.
Immer wieder kehrte Chazelle nach «Babylon» zurück. Es heisst, er habe 15 lange Jahre an seinem Drehbuch getüftelt – und darin hat sich sehr viel Liebe zum guten alten Hollywood angesammelt, das, man merkt es, richtig durchgeknallt war. Ein dicker Schinken voller Partyszenen und schwülstiger Monologe soll das Skript einmal gewesen sein. Nachdem mehrere Filmstudios (wohl dankend) absagten, gab Paramount irgendwann klein bei und machte für Chazelle ein Budget von 80 Millionen Dollar locker – unter der Bedingung, dass Drehbuch gekürzt wird. Mit einer Machete habe er sein Werk zerhackt, beschreibt der Regisseur selbst. Übrig blieben 180 Seiten, die auf drei Stunden übertragen werden sollten – geplant waren mehr, viel mehr.
Das Epos beginnt – sinnigerweise – mit dem Transport eines ausgewachsenen Elefanten: Dieser soll an eine Party gefahren werden, die in einem Palast hoch oben auf den Hügeln von Beverly Hills stattfindet. Zuständig für den Transport ist Protagonist Manny Torres (Diego Calva), ein junger Mexikaner, der in Hollywood Grosses vorhat. Doch auch der Elefant hat Grosses vor: Kaum hat der Film begonnen, schiesst eine Fontäne Fäkalien aus seinem Hintern – direkt in die Kamera und, im übertragenen Sinn, auf das Publikum im Kino. Viel Zeit, um zu ergründen, welche Bedeutung die Elefantenkacke hat, bleibt nicht, denn schon geht die Party los.
«Venus, die römische Göttin der Liebe, wurde aus dem Meerschaum geboren. Nellie LaRoy wird aus Champagnerschaum zum Leben erweckt.»
Und zwar eine Party, welche die Welt noch nicht erlebt hat: Alkohol, Drogen, Sex, Urin, Musik, Gegröle. Ein bunter Karneval voller nackter Menschen marschiert durch die Hallen. Immer auf Zack ist dabei die Big Band, die mit Trompeten den Rhythmus vorgibt. Die Villa am Rande der Stadt scheint zu pulsieren. Unzählige Frauen, Männer und alles, was das Spektrum sonst noch zulässt, sind von Sinnen und suhlen sich in der Ekstase.
Unter ihnen wandelt Nellie LaRoy (Margot Robbie): Die junge Schauspielerin will ein Star werden und wartet ungeduldig auf ihren Durchbruch. Lange muss sie denn auch nicht warten, denn das Partyvolk wird sie in kürzester Zeit auf Händen tragen. Venus, die römische Göttin der Liebe, wurde aus dem Meerschaum geboren. Nellie LaRoy wird aus Champagnerschaum zum Leben erweckt.
Manny, der mexikanische Handlanger, teilt ihre Sehnsucht: Beide verbindet ihre Liebe zum Film, beide kommen von nichts und beide wollen etwas aus sich machen. Sie freunden sich an, doch während Nellie geliebt wird, wird Manny zum Laufburschen degradiert. Daneben beobachtet Jack Conrad (Brad Pitt) das Getümmel. Der berühmte Hollywood-Star ist schon längst angekommen, wo Manny und Nellie unbedingt hinwollen. Und trotzdem sucht auch er nach seinem Sinn in dieser Welt. Aber zurück zur Party, wo gerade ein kleinwüchsiger Mann auf einem Pogo-Stick in Form eines Penis herumhüpft und die Feiernden mit weissem Schleim vollspritzt.
«30 Minuten darf (oder muss) man der römischen Orgie zusehen, bis endlich in grossen Lettern der Titel dieser Geschichte auf der Leinwand prangt.»
30 Minuten darf (oder muss) man der römischen Orgie zusehen, bis endlich in grossen Lettern der Titel dieser Geschichte auf der Leinwand prangt: «Babylon» – eine Eröffnungsszene, die es in sich hat. Doch nach der Party ist vor der Party, und schnurstracks geht es zum nächsten Abenteuer, diesmal auf einem riesigen Filmset irgendwo im Nirgendwo. Auch dort ist es laut und dreckig, dazu klirrende Schwerter, Explosionen, Gebrüll. Filme über Kneipenschlägereien werden neben Dschungelsafaris gedreht.
Es ist eine magische Welt, über die Jack Conrad wacht wie ein König. Der gestandene Superstar ist der Mittelpunkt dieser Filmlandschaft: Ohne ihn geht nichts, sein Wesen ist alles. Auch Manny und Nelly wollen sich in diesem Wirrwarr behaupten – und genau dort erwartet sie ihre Feuertaufe. Beide müssen sich beweisen: er hinter der Kamera, sie davor.
Darauf folgt erneut eine chaotische Szene, und dann noch eine, und noch eine. Langsam, aber sicher zeigt sich ein besorgniserregendes Muster: «Babylon» kommt gar nicht zur Ruhe und kocht geradezu über vor lauter ambitionierten Ideen. Wie eine Achterbahn nimmt Chazelles Film Fahrt auf, doch bleibt er zu lange in seinen Loopings stecken. Was will der Film überhaupt sagen, und wieso muss er das so laut tun?
Irgendwo hinter all dem endlosen Getöse liegt der Kern der Geschichte verborgen: Es geht um den Auf- und den unaufhaltsamen Abstieg. Alle Hauptfiguren sehnen sich nach Bedeutung: Nellie will ein Star sein, ohne genau zu wissen, was das bedeutet. Manny will Teil von etwas Grösseren sein, ohne zu verstehen, was er dafür opfern muss. Jack will sich krampfhaft weiterentwickeln ohne einzusehen, dass das für ihn nicht möglich ist. Der Film begleitet sie durch ihre vielen, vielen Lebensabschnitte und ohrenbetäubenden Partys. Margot Robbie, Diego Calva und Brad Pitt glänzen in ihren jeweiligen Rollen, und stellenweise wird der Film dadurch sogar gut, richtig gut.
Auch hinter der Kamera von «Babylon» wird nicht gekleckert, sondern geklotzt. Atemberaubend schön setzt Linus Sandgren («La La Land», «No Time to Die») den Film in Szene. Immer wieder verwendet der schwedische Kameramann dominante Grundfarben und taucht Sets in sattes Grün, Rot oder Blau. Schon jetzt findet man auf YouTube Videos über die Farbsymbolik in «Babylon». Auch musikalisch spielt der Film auf höchstem Niveau. Nach «Whiplash», «La La Land» und «First Man» ist Justin Hurwitz selbstverständlich wieder für den Score zuständig und legt bombastische Musikuntermalung, die sowohl laut als auch leise berührt.
«‹Babylon› schmeckt wie eine Suppe, in die man ein Dutzend Bouillonwürfel geschmissen hat.»
Doch leider ist der Film zu selten leise. Viel zu aufgebläht ist das Drehbuch, viel zu hoch das Tempo. «Babylon» schmeckt wie eine Suppe, in die man ein Dutzend Bouillonwürfel geschmissen hat. Wilde Szenen reihen sich an noch wildere Szenen, Handlungen explodieren in Hirngespinste, und irgendwo dazwischen wird noch versucht, die inneren Konflikte der Protagonist*innen zu lösen. Doch dafür bleibt gar keine Zeit, denn es muss ja noch mit einer Klapperschlange gekämpft und mit einem Krokodil gerangelt werden.
Es steht ausser Frage, dass Damien Chazelle ein begnadeter Drehbuchautor und Regisseur ist. Doch vielleicht hätte er rigoroser mit seiner Machete umgehen müssen und seine Vision halbieren sollen. Möglicherweise wäre ihm dann mit «Babylon» ein weiteres Meisterwerk gelungen. In seinem jetzigen Zustand bleibt der Film ein dreistündiger Exzess, von dem man Kopfschmerzen bekommt. Eines muss man ihm aber lassen: Langweilig wird es einem ganz sicher nie in «Babylon».
Über «Babylon» wird auch in Folge 54 des Maximum Cinema Filmpodcasts diskutiert.
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Kinostart Deutschschweiz: 19.1.2023
Filmfakten: «Babylon» / Regie: Damien Chazelle / Mit: Diego Calva, Margot Robbie, Brad Pitt, Jean Smart, Jovan Adepo, Li Jun Li, Lukas Haas, Max Minghella, Katherine Waterston, Tobey Maguire, Eric Roberts, Samara Weaving, Olivia Wilde, Phoebe Tonkin / USA / 188 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © 2022 Paramount Pictures. All Rights Reserved.
«Babylon» ist ein Film über Pipi, Kacka, Kotze, Blut, Champagner und Koks. Dazwischen wird noch versucht, eine Geschichte über die Geburt der modernen Filmindustrie zu erzählen.
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