Dreckige Komödie, absurdes Theater, verkappte Grossstadtsinfonie, Pandemie-Porträt, wütendes Plädoyer gegen reaktionäre Scheinheiligkeit – «Bad Luck Banging or Loony Porn», der Berlinale-Siegerfilm des rumänischen Regisseurs Radu Jude, ist (zu) vieles auf einmal, und gerade deshalb eines der Schlüsselwerke dieses Jahres.
Als wollte er den Weltrekord für die früheste Publikumsflucht aus einem Kino aufstellen, eröffnet Radu Jude seinen neuen Film mit einem ungefilterten, unzensierten Sex-Tape, wie sie auf allen einschlägigen Internetportalen zu Tausenden zu finden sind: Eine Frau windet sich erregt auf einem Bett, ein Mann reibt sich zur Erektion, Dirty Talk, Blowjob, Peitschenhiebe, Doggystyle. Gut drei Minuten dauert das Ganze; peinlich berührte Stimmung in der Kinovorstellung garantiert.
Doch Jude, zu dessen bekanntesten Werken eine 160-minütige schwarze Komödie über das Massaker von Odessa gehört, provoziert hier definitiv nicht ins Leere. Die Sexszene, in der es zwischen der Bukarester Geschichtslehrerin Emi (Katia Pascariu, im Video vertreten von einem Double) und ihrem Ehemann Eugen (Pornodarsteller Stefan Steel) zur Sache geht, ist vielmehr das polarisierende Herzstück seiner Abrechnung mit dem modernen Rumänien – einer Abrechnung, deren Relevanz weit über die Landesgrenzen hinausgeht.
«Die Sexszene, in der es zwischen der Bukarester Geschichtslehrerin Emi und ihrem Ehemann Eugen zur Sache geht, ist vielmehr das polarisierende Herzstück seiner Abrechnung mit dem modernen Rumänien – einer Abrechnung, deren Relevanz weit über die Landesgrenzen hinausgeht.»
Nach aufgeklärter Sexualmoral sollte das Video kaum der Rede wert sein: Zwei erwachsene, verheiratete Menschen haben einvernehmlichen Sex und filmen sich dabei, ebenfalls in gegenseitigem Einverständnis. Doch nachdem es auf einer Website für Fetischpornografie landet, schlägt Emi ein Sturm der Entrüstung entgegen: Der Elternrat der Schule, an der sie unterrichtet, verlangt nach ihrer sofortigen Entlassung.
Ein erster Teil von «Bad Luck Banging or Loony Porn» zeigt Emi bei der Verarbeitung dieser sich überschlagenden Ereignisse. Maskiert – denn es herrscht ja Pandemie – wandert sie durch das sommerliche Bukarest, bespricht sich mit der ihr wohlgesinnten Rektorin (Claudia Ieremia), telefoniert, geht einkaufen, trinkt einen Kaffee.
«Wer den Eindruck hat, dass die Menschen in den letzten 18 Monaten zunehmend konfrontativ geworden sind, wird sich von Jude verstanden fühlen.»
Marius Pandurus Kamera reduziert Katia Pascariu hier oft zu einer marginalen Erscheinung. Immer wieder lässt sie von Judes Protagonistin ab, schwenkt auf die andere Strassenseite oder in eine andere Ecke des Ladens, in dem sich Emi gerade befindet, und rückt mal dokumentarisch authentische, mal überhöht inszenierte Details in den Fokus: riesige Werbetafeln mit anzüglichen Slogans, Bauarbeiter in der Pause, Strassenmusikanten, eine Coronavirus-Diskussion in der Drogerie, einen Streit über Armut und Eigenverantwortung an der Supermarktkasse («Wir sind alle unschuldig…!»). Es ist eine geografisch spezifische, aber wohl fast universell verständliche Zeitkapsel – ein beobachtendes Porträt der rumänischen Hauptstadt und ihren nicht immer erfolgreichen Bemühungen, sich durch die COVID-Pandemie zu kämpfen. (Wer den Eindruck hat, dass die Menschen in den letzten 18 Monaten zunehmend konfrontativ geworden sind, wird sich von Jude verstanden fühlen.)
Gleichzeitig simuliert dieses erste Drittel, gerade mit seinen CCTV-artigen Totalen und roboterhaft eintönigen Kamerabewegungen, Emis Erfahrung, sich immer und überall beobachtet zu fühlen. Nicht nur ist sie als Frau ohnehin dem kontrollierenden Blick der patriarchalisch geprägten Gesellschaft ausgesetzt; ihr Mitwirken in einem Pornovideo kennzeichnet sie obendrein auch noch als zu ächtende Verletzerin der geltenden Sittenregeln. Jede Person, der sie in der Millionenmetropole Bukarest unter die Augen kommt, könnte sie erkennen und sich ihr moralisch überlegen fühlen. Unerhört, eine Frau, die sich beim Sex filmen lässt – sagen jene, die das Video angeklickt haben.
«Radu Jude inszeniert den Elternabend als absurdes Theater, in dem sich das zeitgenössische Rumänien selbst demaskiert, indem es seine eigene historisch gewachsene Bigotterie richtiggehend auskotzt.»
Greifbar wird dieses zu Beginn noch vage Unbehagen im letzten Drittel von «Bad Luck Banging», wo sich Emi in einem knallig bunt beleuchteten, einer Theaterbühne ähnelnden Innenhof dem versammelten Elternrat stellen muss. Maskiert, «socially distanced» und bewaffnet mit konservativen Ansichten, scheinheiliger Selbstgefälligkeit und faschistoiden Verschwörungstheorien, drischt der Grossteil der versammelten Runde verbal auf Emi ein: Eine perverse «Porno-Lehrerin» sei sie. Was ihr denn einfalle, ihren Schüler*innen das Video zu zeigen. Sicher unterrichte sie auch schmutzige Literatur. Ihre Geschichtslektionen brächten ihre Schützlinge gegen die ach so glorreiche Vergangenheit Rumäniens auf. Am Ende sei sie noch eine von George Soros finanzierte Puppe, die Juden und Roma an die Macht bringen wolle. Radu Jude inszeniert den Elternabend als absurdes Theater, in dem sich das zeitgenössische Rumänien selbst demaskiert, indem es seine eigene historisch gewachsene Bigotterie richtiggehend auskotzt.
Das Scharnier zwischen der geduldigen Beobachtung des ersten Teils und dem virtuos vorgetragenen Zorn des dritten bildet – ganz einem Regisseur entsprechend, der in Interviews gerne mit Verweisen auf Theoretiker*innen wie Laura Mulvey und Siegfried Kracauer um sich wirft – ein wunderbar sperriger didaktischer Exkurs: Ohne Dialog, nur mit illustrativem Bildmaterial und nicht immer selbsterklärenden Texttafeln, legt Jude ein 26-teiliges «nationales Lexikon» von Begriffen vor, die zum Verständnis von Emis Prozess beitragen, oder zumindest beitragen könnten.
«Judes Rundumschlag gegen faschistisch-populistisches Gedankengut, den von der Pandemie befeuerten Egozentrismus und die Lügen, die man sich in ganz Europa über die eigene Geschichte erzählt, ist das spielerisch gallige Werk eines grossen Künstlers, dem endgültig der Kragen geplatzt ist.»
Blowjobs, Penisse, Vaginas und Cam-Girls werden, teilweise anhand von augenzwinkernden Anekdoten, erklärt, ebenso die faschistischen und kommunistischen Gräueltaten in Rumäniens Vergangenheit, die gesellschaftliche Autorität der orthodoxen Kirche («Sie stand jeder Diktatur nahe»), der in Europa grassierende Anti-Roma-Rassismus. Philosophische Gedanken folgen auf kindische Witze, kindische Witze auf historische Fakten über den Holocaust. Die vielleicht wichtigste Einblendung ist ein Kracauer-Zitat im Lexikoneintrag über das Kino, demgemäss der Mensch nicht dazu fähig ist, die wahren Schrecken der Welt direkt zu sehen, sondern erst eine Abbildung davon braucht – zum Beispiel auf einer Leinwand –, um an ihre Existenz zu glauben.
Diese Mischung aus oberflächlichem Schockieren, hinterlistigem Provozieren und kopflastigem Argumentieren kann hin und wieder etwas plump wirken, doch der satirische Biss von «Bad Luck Banging» ist unbestreitbar. Judes Rundumschlag gegen faschistisch-populistisches Gedankengut, den von der Pandemie befeuerten Egozentrismus und die Lügen, die man sich in ganz Europa über die eigene Geschichte erzählt, ist das spielerisch gallige Werk eines grossen Künstlers, dem endgültig der Kragen geplatzt ist.
Über «Bad Luck Banging or Loony Porn» wird auch in Folge 34 des Maximum Cinema Filmpodcasts diskutiert.
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Kinostart Deutschschweiz: 30.9.2021
Filmfakten: «Bad Luck Banging or Loony Porn» («Babardeală cu bucluc sau porno balamuc») / Regie: Radu Jude / Mit: Katia Pascariu, Claudia Ieremia, Olimpia Mălai, Nicodim Ungureanu, Stefan Steel / Rumänien, Luxemburg, Kroatien, Tschechien / 106 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Xenix Filmdistribution GmbH
Radu Jude präsentiert entfesseltes Satirekino: «Bad Luck Banging or Loony Porn» sprüht nur so vor provokanten Ideen und polarisierenden Meinungen. Urkomisch, messerscharf, essenziell.
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