Giulia beginnt nach 16 Wochen Mutterschaftsurlaub, wieder zu arbeiten. An sich nichts Ungewöhnliches in der Schweiz – es sei denn, man ist Solotänzerin am Opernhaus Zürich und möchte beides: Mutter sein und die eigene Karriere weiterverfolgen. Giulias Zerrissenheit zwischen dem wettbewerbsorientierten Elite-Ballett und dem neuen Familienleben wurde zwischen 2019 und 2021 von Regisseurin Laura Kaehr filmisch begleitet: «Beocming Giulia» lässt das Publikum in die spannende Welt eines grossen Opernhauses sowie in die täglichen Herausforderungen einer jungen, berufstätigen Mutter blicken.
Die Regisseurin und ehemalige professionelle Balletttänzerin Laura Kaehr hält sich in ihren ersten abendfüllenden Dokumentarfilm nicht lange mit Erklärungen auf. «Becoming Giulia» tritt direkt in Giulia Tonellis Leben, wo zwischen Bügelwäsche und dem kleinen Jacopo Dehnungsübungen gemacht werden, die Kinderkrippe telefonisch nicht erreichbar ist und der Kinderwagen ins Tram geschoben wird, um zur Oper zu eilen, da die Proben für «Romeo und Julia» anstehen. Giulias Drang, zu tanzen, hat bisher ihr Leben geprägt, und die mehrmonatige Pause nahm ihr ein Stück Identität, wie sie sagt – auch wenn sie ihr Kind liebt und es ihr viel gibt.
Das Training ist hart und schmerzhaft, Giulia muss zu ihrer Form zurückfinden und wird, parallel zu «Romeo und Julia», auch für Verdis «Requiem» und den «Nussknacker» proben. Als einzige Tänzerin, die auch Mutter ist, scheint sie sich doppelt beweisen zu müssen – etwa wenn Proben verschoben werden und sie sich neu organisieren muss. Ohne ihre Eltern und ihren Ehemann wäre die Rückkehr in diesen kompetitiven Kosmos nicht möglich gewesen. Sich zwischen Mutterrolle und Karriere zu entscheiden, stand aber nie zur Diskussion – denn eine Teilzeit-Ballerina kann keine Solotänzerin sein, geschweige denn am Opernhaus tanzen, da es gar nicht möglich ist, die geforderte Perfektion zu erreichen, wenn nur wenige Stunden pro Woche trainiert wird.
Da Laura Kaehr selbst Profitänzerin war, konnte sie während der Dreharbeiten ein gutes Vertrauensverhältnis aufbauen, welches ihr erlaubte, auch sehr intime Momente in Giulias Leben zu filmen: Giulia weint, füttert ihr Baby, tröstet es oder spielt mit ihm. Anderswo sind ihre Kolleginnen zu sehen, die sich über dieses und jenes beschweren, stumm in den Pausen ihr mitgebrachtes Essen verzehren oder am Handy spielen. Und nicht zuletzt wird die Schönheit des Balletts von Kaehr, Felix von Muralt und Stéphane Kuthy nicht nur auf der Bühne, sondern auch während der Proben in eindrücklichen Breitbildaufnahmen mit der Kamera eingefangen.
Mit dem Vergehen der Monate und Jahre entdeckt Giulia neue Perspektiven – insbesondere, als sie die Choreografin Cathy Marston, selbst Mutter von zwei Kindern, kennenlernt, die Giulia zu aussergewöhnliche Rollen ermutigt, für die sie an ihrer eigenen Choreografie arbeiten kann. Denn Umbrüche machen auch vor dem Opernhaus nicht halt: Keine Stelle ist sicher, und die aufkommende Coronapandemie bescherte zwar etwas mehr Familienzeit, aber auch erschwerte Trainingsbedingungen. Menschen wie Giulia oder Cathy bewältigen auch das und sind eine Offenbarung für Frauen und Mütter.
«Nicht zuletzt wird die Schönheit des Balletts von Kaehr, Felix von Muralt und Stéphane Kuthy nicht nur auf der Bühne, sondern auch während der Proben in eindrücklichen Breitbildaufnahmen mit der Kamera eingefangen.»
Selbst die deutsche Regisseurin Tine Rogoll («Sachertorte»), auch sie Mutter eines Kleinkinds, sagte nach ihrer Visionierung des Films am letztjährigen Zurich Film Festival, dass es wünschenswert wäre, Müttern sowohl an Filmset als auch auf Opern- und Theaterbühnen eine vollumfängliche Kinderbetreuung anzubieten. Das wäre ein grosser Schritt, um Frauen zu ermutigen, mehr Filme zu drehen – oder eben Solotänzerin zu sein. Im Moment ist es aber noch ein sehr holpriger Weg für Giulia, diejenige zu werden, die sie sein will. Aber das verrät uns die Doku nicht ganz: Will Giulia Tonelli «Giulia die Mutter» oder «Giulia die Tänzerin» werden, oder am Ende doch beides?
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Kinostart Deutschschweiz: 23.3.2023
Filmfakten: «Becoming Giulia» / Regie: Laura Kaehr / Mit: Giulia Tonelli / Schweiz / 103 Minuten
Bild- und Trailerquelle: First Hand Films
In Laura Kaehrs «Beocming Giulia» kämpft sich die Solotänzerin Giulia Tonelli nach der Babypause zurück ins Elite-Ballett-Ensemble des Zürcher Opernhauses. Sehenswert und voller Aktualitätsbezug.
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