Die 70. Ausgabe der Internationalen Filmfestspiele Berlin ging dieses Jahr etwas später, nämlich vom 20. Februar bis 1. März, über die Bühne. Maximum Cinema war vor Ort und hat die Beiträge des ersten grossen europäischen Filmfestivals 2020 unter die Lupe genommen. Viele gute, wenige sehr gute und zum Glück noch weniger schlechte Filme wurden dem Publikum vorgeführt. Wir präsentieren fünf Highlights und sieben lobende Erwähnungen.
«Never Rarely Sometimes Always» von Eliza Hittman (USA)
Drei Jahre nach «Beach Rats» landet Regisseurin und Autorin Eliza Hittman den nächsten Volltreffer – ein einfühlsames, wortkarges und realitätsnahes Drama über ein 17-jähriges Mädchen, das mit ihrer Cousine vom ländlichen Pennsylvania nach New York City reist, um eine Abtreibung vorzunehmen. Von Haus aus ein schwieriges und kontroverses Thema, erzählt «Never Rarely Sometimes Always» unvoreingenommen und mutig von einer getroffenen Entscheidung, die es umzusetzen gilt, und von all den Hürden, die dieser Umsetzung im Weg stehen. Ohne wertend zu sein, bezieht der Film klar Stellung.
«Wildland» von Jeanette Nordahl (Dänemark)
Ida lebt seit dem Unfalltod ihrer Mutter bei deren Schwester und ihren drei älteren Cousins. Sie sind keine gewöhnliche Famlilie – Drogen und kriminelle Machenschaften gehören zum Alltag. Fasziniert von dieser Konstellation und der Anziehungskraft ihrer nächsten Angehörigen, wird Idas Loyalität bald auf die Probe gestellt. Denn in Sicherheit ist sie bei der streng-liebevollen Matriarchin und ihren Macho-Cousins keineswegs. In den Hauptrolle brillieren die Newcomerin Sandra Guldberg Kampp und «Borgen»-Hauptdarstellerin Sidse Babett Knudsen.
«Welcome to Chechnya» von David France (USA)
Seit 2017 werden in Tschetschenien, einer südlichen Provinz in Russland, LGBTQ-Menschen gezielt verfolgt, gefangen genommen und gefoltert. Es gibt praktisch kein Entkommen und die sich in Gefahr befindenden Menschen sind dringend auf Hilfe von aussen angewiesen. «Welcome to Chechnya» vom ehemaligen Journalisten David France begleitet russische AktivistInnen und Verfolgte auf ihrem Weg in die Freiheit. Dass sie dabei selber ins Visier der russischen Behörden geraten, macht ihre Arbeit nicht leichter. Höchst emotional und mit einer faszinierenden Methode, die Gesichter der Verfolgten unkenntlich zu machen, lässt «Welcome to Chechnya» absolut niemanden kalt.
«Las mil y una» von Clarisa Navas (Argentinien/Deutschland)
Eine Sozialwohnungssiedlung irgendwo in Argentinien: Iris, 17 Jahre alt, verbringt ihre Freizeit vorwiegend mit ihren beiden queeren, das Leben geniessenden und in selbstgeschriebenen Texten die Heteronormativität anzweifelnden Cousins. Im Gegensatz zu ihnen ist Iris eher scheu, und als die geheimnisvolle Renata die Siedlung betritt, wird sie gezwungen, sich ihr gegenüber zu öffnen. Nicht ganz einfach, denn Renata hat eine etwas zweifelhafte Reputation im Viertel, und es dauert nicht lange, bis über die beiden getuschelt wird. Mit ausgiebigen Kamerafahrten, welche die Siedlung nie verlassen, wird man in eine handlungsarme, aber deswegen nicht minder packende Geschichte über Armut und Gemeinschaft, das Coming-Out und (Cyber-)Mobbing hineingezogen.
«First Cow» von Kelly Reichardt (USA)
Der neue Film von Kelly Reichardt («Meek’s Cutoff», «Certain Women») feierte vergangenen August beim Telluride-Festival Premiere und war nun in Berlin im Wettbewerb zu sehen. Es ist die verrückte Geschichte zweier Einzelgänger, die sich im frühen 19. Jahrhundert im wilden Oregon mit einer lukrativen Geschäftsidee ein kleines Business aufbauen. Mit der ersten Kuh, die von einem wohlhabenden Landbesitzer nach Oregon geholt wird, kommt ihnen die Idee, für die lokale Bevölkerung Donuts zu backen. Was die zahlende Kundschaft – inklusive dem eben genannten Landbesitzer – aber nicht weiss, ist, dass sie die Milch dafür nachts von der Kuh stehlen. Die mit einem Augenzwinkern erzählte, schlicht inszenierte Geschichte hat auch besondere gesellschaftliche und politische Bedeutung für die Gegenwart.
Lobende Erwähnungen:
«Gunda» von Viktor Kossakovsky (Norwegen/USA)
Gunda – rosa, haarig und mit einem Ringelschwanz – ist Mutter einer Vielzahl kleiner Ferkel. So wenig man die Farbe ihrer Haut sieht – der Dokumentarfilm von Viktor Kossakovsky («Aquarela») ist gänzlich schwarz-weiss –, sieht man auch, was sie denkt. Man kann ihr nur zusehen und beobachten, wie sie sich manchmal liebevoll, manchmal mit eisernem Huf um ihre Kleinen kümmert, sich der Kamera nähert oder etwas Ruhe im Stall haben will. «Gunda» war der heimliche Star dieser Berlinale, ein unglaublich ehrlicher Film, der die heutige Tierhaltung und den extensiven Fleischkonsum anprangert – ohne ein Wort zu sagen. Trotzdem ist der Film so laut, dass auch Joaquin Phoenix darauf aufmerksam geworden ist und einen Executive-Producer-Credit erhalten hat.
«Shirley» von Josephine Decker (USA)
Erst kürzlich wurde Shirley Jackson, die Autorin von Romanen wie «The Haunting of Hill House» und «We Have Always Lived in the Castle», als eine der wichtigsten Protagonistinnen der US-amerikanischen Horrorliteratur wiederentdeckt. In «Shirley», der lose auf dem Leben der Schriftstellerin basiert, wird sie gekonnt von Elisabeth Moss («The Handmaid’s Tale», «The Invisible Man») verkörpert. Zusammen mit ihrem Mann, dem College-Professor Stanley Hyman (Michael Stuhlbarg), nimmt sie einen Doktoranden und dessen schwangere Frau bei sich auf. Shirleys Bedürfnis nach Stoff für ihr neues Buch ist so gross, dass schon bald die Beziehung des jungen Paares bedroht wird.
«Favolacce» von Damiano und Fabio D’Innocenzo (Italien/Schweiz)
«Favolacce» ist einer der verstörendsten Filme der diesjährigen Berlinale. Er erzählt von einer Handvoll Vorstadtfamilien, die ausserhalb Roms in Einfamilienhäusern mit Pool wohnen. Die Eltern pushen ihre Kinder zu Höchstleistungen, sind aber selber dauerfrustriert, weil sie es im Leben nicht zu mehr geschafft haben. Wie der Film der Zwillingsbrüder D’Innocenzo («La terra dell’abbastanza») auf äusserst bedrückende Weise darstellt, haben am Schluss immer die Kinder das Nachsehen.
«Mogul Mowgli» von Bassam Tariq (Grossbritannien)
Was machst du als Künstler, wenn dein internationaler Durchbruch kurz bevorsteht, du aber von einer Autoimmunerkrankung ausser Gefecht gesetzt wirst? Diesem Dilemma sieht sich der britisch-pakistanische Rapper Zed (meisterhaft gespielt von Riz Ahmed) gegenüber. «Mogul Mowgli» erzählt eine beunruhigende und gleichzeitig elektrisierende Geschichte über familiäre Spannungen, soziale Mobilität und Entwurzelung. Zuhause in England bei seinen Eltern wird er mit seiner Vergangenheit konfrontiert, obwohl für ihn eigentlich nur die Zukunft zählte.
«Futur Drei» von Faraz Shariat (Deutschland)
«Futur Drei» wurde an der Berlinale mit dem diesjährigen «Teddy-Award» ausgezeichnet, der seit 1987 den besten Queer-Film prämiert. Das Regiedebüt von Faraz Shariat erzählt kraftvoll und gespickt mit Popkultur-Verweisen von einem intensiven Sommer und der ersten grossen Liebe. Parvis, Sohn iranischer Eltern, verliebt sich zwischen Raves und Grindr-Dates in Amon, der mit seiner Schwester aus dem Iran nach Deutschland geflüchtet ist und seither in einem Flüchtlingsheim lebt. Parvis‘ Eltern, er selbst als Homosexueller, Amon und seine Schwester Banafshe – sie alle sind in Deutschland, fühlen sich dort aber doch irgendwie fremd.
«Schlaf» von Michael Venus (Deutschland)
«Schlaf» von Michael Venus liest sich ein bisschen wie «David Lynch im Schwarzwaldhof». Abgefahrene Albtraumsequenzen, verzerrte Gesichter, unterschwellige politische Kommentare und starke darstellerische Leistungen (insbesondere von Newcomerin Gro Swantje Kohlhof und der immer guten Sandra Hüller): Der deutsche Horrorfilm ist eine dystopische Familiengeschichte und eine pure Achterbahnfahrt mit märchenhaften Elementen, welche die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmen lässt.
«Onward» von Dan Scanlon (USA)
Pixars «Onward» wurde an der Berlinale als Special Gala in Anwesenheit des Regisseurs Dan Scanlon («Monsters University») gezeigt. Ohne viele Worte zu verlieren, sei hier am besten auf Olivier Samters Maximum-Cinema-Kritik verwiesen, welche die Qualität des Films präzise auf den Punkt bringt.
–––
Das gesamte Programm der 70. Berlinale ist hier nachzulesen.
No Comments