Die 72. Ausgabe des Locarno Film Festival ist Geschichte. Stars wie Hilary Swank, Joseph Gordon-Levitt oder Carice van Houten besuchten die Piazza Grande, Fredi M. Murer wurde für sein Lebenswerk geehrt, auch Schauspieler Song Kang-ho («Parasite») bekam einen Ehrenpreis. Auch neben der Piazza wurde grosses Kino geboten und so durften wir im PalaCinema, im Fevi oder in weiteren Kinos von Locarno herausragende Filme entdecken. Hier präsentieren wir euch eine Auswahl der besten Filme, die wir dieses Jahr im wunderschönen Ticino ansehen durften. Grazie #Locarno72!
Die Palmarès der diesjährigen Ausgabe finden sich übrigens hier.
Texte: Aurel Graf, Lola Funk, Sharon Kesper, Sara Bucher, Andri Erdin
«The Last Black Man in San Francisco» von Joe Talbot
Mit seinem Debüt «The Last Black Man in San Francisco» ist Regisseur Joe Talbot ein Meisterstreich gelungen. Die Geschichte um Jimmie Fails (gespielt vom gleichnamigen Co-Autor) und seiner obsessiven Liebe zu einem viktorianischen Haus ist zugleich Hommage und Kritik an San Francisco. Die Eröffnungssequenz begleitet unseren rollbrettfahrenden Helden von der Peripherie der Grossstadt bis in ihren Kern und dient als pompöse Ouvertüre für eine tiefgründige Auseinandersetzung mit Themen wie Gentrifizierung und Heimatsuche. «The Last Black Man San Francisco» ist ein stilistischer Paukenschlag, der sich als farbenfrohes Spektakel vom narrativorientieren Wettbewerb absetzt.
«Instinct» von Halina Reijn
Wie kann es passieren, dass eine erfahrene Psychologin auf die Tricks eines straffälligen Psychopathen hereinfällt und dessen Charme verfällt? Mit ihrer besten Freundin Carice van Houten (bekannt aus «Game Of Thrones») in der Hauptrolle geht die niederländische Regisseurin Halina Reijn dieser Frage nach und beantwortet sie in ihrem Psychodrama mit Gänsehautfaktor. Intelligent geschrieben und grossartig gespielt: «Instinct» liefert einen sensiblen Blick in die Psyche einer Frau, die beim Versuch, die Seele eines wiederholten Missbrauchstäters (Marwan Kenzari) zu klempnern, in dessen perfide gelegte Falle tappt und ihre eigenen verworrenen Tiefen Stück für Stück aufdeckt.
«Flapping in the Middle of Nowhere» von Nguyễn Hoàng Điệp
Von einem sanften Soundtrack begleitet lockt Regisseurin Nguyễn Hoàng Điệp mit ihrem Erstling, der dieses Jahr in der «Open Doors»-Sektion gezeigt wurde, in die soziale Unterschicht Vietnams. Huyen (Nguyễn Thùy Anh), ein junges Mädchen, erfährt, dass sie schwanger ist. Für die Abtreibung fehlt ihr das Geld und der Mut, für das Mutterwerden ebenso. Während des 100-minütigen poetischen Gesellschaftsporträts versucht Huyen, eine Entscheidung für oder gegen das junge Leben in ihrem Bauch zu treffen, wird von ihrem Freund enttäuscht, dann wieder von ihrer transsexuellen besten Freundin an einen Mann mit Schwangerschaftsfetisch vermittelt. Am Ende findet sie sich immer wieder auf sich alleine gestellt – in Hanoi, einer Stadt, so hübsch von aussen wie erbarmungslos im Inneren.
«Cat in the Wall» von Mina Mileva und Vesela Kazakova
Die Bulgarierin Irina wohnt mit ihrem kleinen Sohn und ihrem Bruder in einem Mehrfamilienhaus im östlichen London. Der Aufzug dient oftmals als Toilette, die multikulturellen Einwohner schnauzen sich lieber an, als nette Worte zu wechseln und eine teure Renovation muss gezahlt werden, obwohl diese gar nicht von den Bewohnern verlangt wird. Mittendrin: Eine vermeintlich herrenlose Katze, die von der hitzigen Stimmung genug hat und sich in the wall verbarrikadiert und die Hausbewohner so zur Zusammenarbeit zwingt. «Cat in the Wall» ist kurzweilige Gesellschaftskritik, ein Wechselbad der Gefühle zwischen Verzweiflung und Lebensfreude, das von der starken Figurenzeichnung lebt. Mit dokumentarischen Stilmitteln versehen verweist die herzerwärmende Hymne noch dringlicher auf die real existierenden bürokratischen Missstände, die in der Grossstadt London herrschen. «Cat in the Wall» von Mina Mileva und Vesela Kazakova ist das diesjährige Pendant zu «I, Daniel Blake» von Regieurgestein Ken Loach, welcher am Locarno Festival 2016 den Publikumspreis abräumte.
«A Girl Missing» von Kōji Fukada
Die Geschichte einer jungen Frau, deren Leben durch eine einfache Lüge komplett aus der Bahn geworfen wird, wird gekonnt auf mehreren Zeitebenen erzählt. Dank einer fesselnden Hauptdarstellerin (Mariko Tsutsui), überraschenden Wendungen und einigen unvergesslichen Szenen vermag das Drama aus Japan zu überzeugen und bestens zu unterhalten.
«143 rue du désert» von Hassen Ferhani
Malika heisst die alte Frau, die inmitten der Wüste im Süden von Algerien ein Café betreibt. Nur mit dem allernötigsten ausgestattet beherbergt sie Gäste – jedoch nie für besonders lange. Einige kommen für den Kaffee, einige um sich auszuruhen, und wiederum andere um wieder einmal mit jemandem ein paar Worte zu wechseln. Es sind kurze, aber einprägsame Begegnungen, die der Zuschauer zusammen mit Malika erfährt.
«The Fever» von Maya Da-Rin
«A febre», der erste Spielfilm der brasilianischen Künstlerin Maya Da-Rin, entführt in ein fieberhaftes Manaus: Der indigene Justino (Regis Myrupu) lebt mit seiner Tochter am Stadtrand, wo die Dschungelgeräusche ihn jede Nacht in den Schlaf lullen. Als seine Tochter (Rosa Peixoto) ihm erzählt, dass sie die Aufnahmeprüfung zum Medizinstudium in Brasilia bestanden hat, beginnt bei Justino ein unerklärliches Fieber: Jede Nacht träumt er intensiv vom Dschungel und von einem unheimlichen Tier, das in der Dunkelheit jagt… «A febre» ist eine ruhige, tiefgründige Charakterstudie und ein faszinierender, dokumentarisch anmutender Einblick in den Alltag einer indigenen Familie im modernen Manaus.
«L’apprendistato» von Davide Maldi
Der 14-jährige Luca (Luca Tufano) ist es sich von zu Hause gewohnt, Kühe zu melken, Wildschweine zu jagen und spätabends auf dem Hof der Eltern nach dem Rechten zu sehen. Nun beginnt er eine Lehre in einem Hotel und lernt zum ersten Mal, was Kundenservice bedeutet. So ganz kann sich der Teenager aber noch nicht mit den neuen Regeln anfreunden, vor allem das Stillsitzen oder -stehen bereitet ihm grosse Mühe. Authentisch und liebevoll wird die Geschichte eines Jungen erzählt, der mit typischen Problemen kämpft und schliesslich eine persönliche Entwicklung durchläuft. Der Film ist einer von mehreren von Regisseur Davide Maldi, die sich ums Thema Jugend drehen.
«Diego Maradona» von Asif Kapadia
Jeder kennt ihn oder zumindest seinen Mythos: Der Argentinier Diego Maradona gilt für viele bis heute als der beste Fussballer aller Zeiten. Doch was genau verbirgt sich hinter dem Mann, den man auch mit Drogen und Mafia in Verbindung bringt? Regisseur Asif Kapadia hatte Zugriff auf über 1000 Stunden Filmmaterial und hat daraus eine gut zweistündige Doku erstellt. Darin wird nicht das ganze Leben Maradonas beleuchtet, sondern vor allem die Zeit zwischen 1985 und 1991 – und genau das ist die Stärke des Filmes. Durch diese optimale Fokussierung wird eine in sich abgeschlossene Geschichte erzählt, die noch lange beim Zuschauer nachhallt.
«Diego Maradona» kommt am 5. September in die Deutschschweizer Kinos
«Days of the Bagnold Summer» von Simon Bird
Der Plot des Filmes von Simon Bird klingt erst einmal banal: Der Teenager und Heavy-Metal-Liebhaber Daniel Bagnold kann seinen geplanten Urlaub nicht antreten und muss deshalb die ganzen Sommerferien mit seiner alleinerziehenden Mutter verbringen – und die nervt ihn gewaltig. Wie erwartet ist es aber nicht der Plot, der diesen Film auszeichnet, sondern die komödiantischen Bildkompositionen (wenn die beiden zum Beispiel in einem scheinbar völlig verlassenen Einkaufszentrum auf einer Rolltreppe stehen; Daniel wie immer mit genügend Abstand zu seiner Mutter), gepaart mit herrlich britischem Humor und realitätsnahen Alltagsdialogen. Die beiden (fast einzigen) Protagonisten wirken auf den ersten Blick stark überspitzt, im Verlauf des Films aber wird jeder Zuschauer einzelne Charakterzüge in sich selbst oder seinem Umfeld erkennen.
Kurzfilme
Dass Yorgos Lanthimos («The Killing of a Sacred Deer», «The Favourite») mehr ist als die Summe seiner ausgefallenen Lieblingsstilmittel – laute klassische Musik, Fischaugenobjektive und ungewöhnliche Kamerawinkel, verstörend abstrakte Konversationen – beweist er mit seinem hypnotischen Kurzfilm «Nimic» einmal mehr: Ein namenloser Cellist (Matt Dillon) hat in der U-Bahn eine Begegnung, welche die Grenzen zwischen Unterbewusstsein, Albtraum und Realität verschwimmen lässt – so wie man es von Lanthimos bisher in Spielfilmlänge kennt.
Kurz und knackig soll es bei den Kurzfilmen von Pardi di Domani sein: Die Leopardengewinner von Morgen stellen auch dieses Jahr eine starke Auswahl, die unter der neuen künstlerischen Leitung vor allem durch thematische Diversität und Ernsthaftigkeit auffällt. Highlights wie «16 de decembro», über einen sexuellen Übergriff in der Öffentlichkeit, oder «Mthunzi», in welchem Hilfsbereitschaft zum Verhängnis wird, zeigen dass die Verspieltheit der vergangenen Jahre einer mutigen Sachlichkeit Platz gemacht hat. Darunter hält auch die Schweizer Beteiligung mit: «Mama Rosa» (Gewinner Bester Schweizer Kurzfilm) oder «Terminal» (Best Swiss Newcomer Prize), bei denen jeweils eine ältere Dame im Zentrum steht, können sich gut mit dem diesjährigen Gewinner des internationalen Wettbewerbs «Black Sun» oder skurrilen Schockern wie «Mom’s Movie» messen.
Special Mentions:
- «Technoboss» von João Nicolau
- «Lovemobil» von Elke Margarete Lehrenkrauss
- «Cecil B. Demented» von John Waters
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