Mehr Besucher*innen als in den letzten beiden Jahren strömten dieses Jahr ans Neuchâtel International Fantastic Film Festival (NIFFF), um das fantastische, futuristische und asiatische Genrekino zu feiern. Damit hat das Festival wieder Vor-COVID-Zahlen erreicht, mit über 34’400 verkauften Tickets und mehr als 55’000 Besucher*innen während neun Tagen. Das waren unsere persönlichen Highlights im Programm.
«River» von Junta Yamaguchi
Mikoto (Riko Fujitani) macht eine kurze Arbeitspause am Fluss hinter dem traditionellen Gasthaus Fujiya, bevor sie sich aufmacht, um eines der Essezimmer aufzuräumen – nur um sich zwei Minuten später urplötzlich am Fluss wiederzufinden. Aus ungeklärten Gründen steckt das Gasthaus inklusive Nachbarschaft in einer Zeitschleife fest. Die erste Anweisung von Mikotos Chefin: die Gäste weiterhin bei Laune halten. Immerhin hat das Gasthaus schon ganz andere Dinge durchgestanden. Regisseur Junta Yamaguchi hat mit «Beyond the Infinite Two Minutes» (2020) schon bewiesen, dass er humorvolle Zeitspielereien bestens beherrscht. In «River» legt er aber einen stärkeren Fokus auf die Figurenentwicklung, wodurch ihm ein zugänglicheres Werk mit simplerem Zeit-Kniff, aber dafür wesentlich mehr Tiefe gelingt. Wer hat sich nicht schon immer einmal gewünscht, die Zeit anzuhalten? Wohl jede*r, aber in «River» findet man bald heraus, dass es in Wirklichkeit nur halb so lustig ist – während das Publikum gleichzeitig mehr als genug zum Lachen bekommt. / Nicoletta Steiger
«Killing Romance» von Lee Won-suk
Eine ehemalige Schauspielerin (Lee Hanee) fühlt sich in der Beziehung mit ihrem wohlhabenden und vermeintlich perfekten Ehemann (Lee Sun-kyun) gefangen. Also beschliesst sie kurzerhand, mit ihrem Nachbarn (Gong Myung), der ein riesengrosser Fan von ihr ist, den Ehemann umzubringen. Leichter gesagt als getan. Denn ihr Komplize beginnt, Sympathien für den zu Ermordenden zu entwickeln. Und obendrein stellt sich der verhasste Gatte auch noch als Kampfsportexperte heraus. Gespickt mit vielen K-Pop-Songs, Sing- und Tanzeinlagen, ist «Killing Romance» von Lee Won-suk urkomisch. Schon ab der ersten Minute wird klar: So etwas haben wir noch selten gesehen. Dazu passen auch die schauspielerischen Leistungen: Schrill und laut sind sie – sei es, wenn die beiden Hauptfiguren versuchen, den Ehemann mit einem Schwitz-Wettbewerb in einer Sauna auszuschalten, oder wenn sie ihn mit scharfem Essen ausser Gefecht setzen wollen und er wiederholt «It’s good!» schreit. Ein Film mit Kultpotenzial. / Aline Locher
«Raging Grace» von Paris Zarcilla
Der Horrorfilm «Raging Grace» holte sich am NIFFF den Publikums-, den Kritiker*innen- und den Jugendpreis – und das zu Recht. Regisseur Paris Zarcilla gelingt es, eine sozialkritische Thematik mit einem spannenden Horrorthriller zu verknüpfen. Die philippinische Immigrantin Joy (Max Eigenmann) findet ohne Ausweis den scheinbar perfekten Job: Sie soll sich um einen alten, bettlägerigen Mann und sein Haus kümmern, und das zu einem guten Lohn und sogar mit Unterkunft inklusive. Nur stellt sich bald heraus, dass nicht alles mit rechten Dingen zu- und hergeht. Das Grandiose an «Raging Grace» ist, dass Zarcilla sowohl auf der Mystery-Ebene als auch auf der sozialkritischen Ebene mehrere Schichten verwendet. Täter und Opfer können eben oft dieselbe Person sein, und wer unter eine Form von Diskriminierung leidet, ist nicht davor gefeit, andere Formen selbst auszuüben. / Nicoletta Steiger
«The Pod Generation» von Sophie Barthes
Rachel (Emilia Clarke) ist eine Geschäftsfrau, die sich umgeben von Technologien wie einer KI-Therapeutin oder künstlicher Naturluft pudelwohl fühlt. Ihr Mann Alvy (Chiwetel Ejiofor) hingegen, ein Botaniker, kann mit alldem nichts anfangen. Ohne seines Wissens schreibt sich Rachel eines Tages bei Pegazus ein, einem Unternehmen, das Embryos ausserhalb vom Frauenkörper in einem Plastikei wachsen lässt. Trotz anfänglichen Zögerns willigt Alvy ein – und schon bald sieht sich Rachel mit der Tatsache konfrontiert, dass Alvy eine Bindung zu ihrem ungeborenen Baby aufbauen kann, sie aber nicht. «The Pod Generation» klingt wie ein «Black Mirror»-Szenario und könnte auch glatt mit den älteren (und besseren) Folgen von Charlie Brookers Serie mithalten. Angenehm ist der Film zu Beginn allerdings nicht. Er wirft viele Fragen auf: Wie weit soll die Gleichstellung von Frau und Mann gehen? Wie kann man Beruf und Familie in einer Leistungsgesellschaft miteinander vereinbaren? Und braucht man noch Reales, wenn das Künstliche scheinbar genauso gut ist? «The Pod Generation» zeigt auf, dass nicht alles schwarzweiss ist: Technik ist gut, aber alle Gefühle und menschliche Zuneigungen vermag sie nicht zu ersetzen. / Aline Locher / CH-Kinostart: 17.8.2023
«UFO Sweden» von Victor Danell
Ganz wenig Action, schrullige Charaktere und ein gutes Mysterium: «UFO Sweden» ist einer jener Filme, die einfach funktionieren. Der Vater von Denise (Inez Dahl Torhaug) verschwand während ihrer Kindheit auf einer seiner «UFO-Expeditionen» spurlos und wurde für tot erklärt. Jahre später findet sie, inzwischen ein Teenager in einer Pflegefamilie, alleridngs Hinweise darauf, dass ihr Vater vielleicht doch noch lebt. Nur will ihr das niemand glauben – ausser die lokale UFO-Gesellschaft. Victor Danell hat ein Händchen für astreine Situationskomik – siehe nur schon der VW-Bus der UFO-Enthusiast*innen, der sich im Hintergrund um die Ecke «davonschleicht», während die Polizei vor dem Gebäude steht. Er kreiert abwechslungsreiche Dynamiken zwischen seinen Figuren und schöpft dann, wenn es darauf ankommt, aus dem Vollen. So sucht Denise zwar ihren Vater, muss dabei am Ende aber auch eine Menge über ihn und sich selbst lernen. / Nicoletta Steiger
«Vincent doit mourir» von Stéphan Castang
Vincent (Karim Leklou) ist ein normaler Typ, der im Grunde nur seine Ruhe haben will. Plötzlich scheint sich jedoch die ganze Welt gegen ihn zu richten: Wie über Nacht möchte (fast) jede Person ihn töten, mit der er Augenkontakt aufnimmt. Doch er ist nicht der Einzige, dem es so ergeht. In einem Forum von Betroffenen erfährt er, dass ihm nur eines bleibt: Menschenkontakt unter allen Umständen zu meiden. Stéphan Castang schafft es mit «Vincent doit mourir», dem Apokalypsen-Zombie-Genre einen neuen Twist zu geben. Zwar gefällt nicht alles: Der Film fühlt sich trotz seiner Länge von unter zwei Stunden stellenweise repetitiv an, da Vincent immer wieder auf dieselbe Art gejagt wird und im letzten Moment dann doch noch entrinnt. Dennoch ist es erfrischend, Castang dabei zuzusehen, wie er diese neue Idee auf die Leinwand bringt. / Aline Locher
–––
Titelbild aus «Vincent doit mourir» / © NIFFF
No Comments