Am Sonntag, 3. Oktober, ging das 17. Zurich Film Festival nach elf Tagen und 102’000 Besucher*innen zu Ende. Maximum Cinema blickt zurück und präsentiert seine zehn Lieblingsfilme aus dem Programm.
«The Last Duel» von Ridley Scott
«The Last Duel» ist Ridley Scotts «Rashomon» – ein Film, erzählt aus drei Perspektiven, mit drei unterschiedlichen Wahrheiten. Der Hintergrund: Eine Vergewaltigung, die zwei Ritter dazu veranlasste, im letzten sanktionierten Duell Frankreichs um die Wahrheit zu kämpfen. Des dieser Geschichte zugrunde liegenden Machismo ist sich «Blade Runner»-Regisseur Scott durchaus bewusst: «The Last Duel» ist ein Film, der lautstark Kritik an patriarchalen Strukturen, Besitzansprüchen und dem Konzept von «Ehre» äussert. Und der leider hochaktuell ist. / Olivier Samter / CH-Kinostart: 14.10.2021
«Pleasure» von Ninja Thyberg
Um ihren grossen Traum zu verwirklichen, reist die 20-jähirge Linnéa (Sofia Kappel) extra aus ihrer Heimat Schweden nach Los Angeles: Sie will ein Pornostar werden. Eine grosse Ahnung vom Business hat sie nicht, aber sie merkt rasch: Wenn sie ihr Ziel erreichen will, muss sie über ihre Grenzen gehen. Regisseurin Ninja Thyberg hat für ihren Film über fünf Jahre hinweg immer wieder in L.A. recherchiert und das Resultat überzeugt: Es geling ihr der Balanceakt, die Geschehnisse in der männerdominierten Branche weder zu beschönigen noch Linnéa nur als armes Opfer darzustellen. / Nicoletta Steiger / CH-Kinostart: 3.1.2022
«Memoria» von Apichatpong Weerasethakul
Einer in Kolumbien lebenden Botanikerin (Tilda Swinton) wird der Schlaf von einem mysteriösen Geräusch geraubt, das nur sie hören kann: einem dumpfen Knall, als würde, wie sie es beschreibt, «eine riesige Metallkugel in einen tiefen Brunnen fallen, der von Meerwasser umgeben ist». Diese ungewöhnliche Prämisse verwandelt der thailändische Slow-Cinema-Meisterregisseur Apichatpong Weerasethakul («Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives») in ein für ihn typisch meditatives Kinoerlebnis, in dem er sich mit der existenziellen Angst auseinandersetzt, nichts weiter als ein Stück organischer Materie zu sein, das eines Tages zerfallen und Teil des unbegreiflichen irdischen Erinnerungsprozesses wird. Man muss sich einlassen auf «Memoria», doch wer es tut, wird sich seiner Faszination nicht entziehen können. / Alan Mattli
«Les Olympiades» von Jacques Audiard
Basierend auf einem Drehbuch, das er zusammen mit Céline Sciamma («Portrait de la jeune fille en feu») und Léa Mysius («Ava») geschrieben hat, erzählt Jacques Audiard («Un prophète») eine Geschichte von Freundschaft und Liebe im 13. Arrondissement von Paris. Ein wunderschön gefilmter und charmant erzählter Film über schöne französische Menschen, die oft und schön französisch ficken – was will man mehr? / Olivier Samter / CH-Kinostart: 3.3.2022
«The Power of the Dog» von Jane Campion
Wer nach der ersten halben Stunde von «The Power of the Dog» denkt, er oder sie habe bereits durchschaut, wie die Verfilmung von Thomas Savages gleichnamigem Roman die Geschlechterrollen des traditionellen Westerns dekonstruiert, hat die Rechnung ohne Jane Campion gemacht. Denn ihr erster Kinofilm seit zwölf Jahren erinnert nachdrücklich daran, dass die neuseeländische Regisseurin und Drehbuchautorin («The Piano», «Bright Star») nicht zuletzt dafür bekannt ist, Publikumserwartungen zu unterlaufen und Zuschauer*innen vor den Kopf zu stossen. Die Geschichte des Machtkampfs zwischen einem hypermaskulinen Rancher (Benedict Cumberbatch), seinem einfühlsameren Bruder (Jesse Plemons), dessen Ehefrau (Kirsten Dunst) und deren «softem» Sohn (Kodi Smit-McPhee) im Montana der 1920er Jahre treibt ein raffiniertes Spiel mit den Sympathien des Publikums und begeistert mit einem zunhemend komplexer werdenden Porträt verschiedener Arten von Macht. Dass das Ganze auch wunderschön bebildert ist und mit einem herausragenden Musikscore von Jonny Greenwood («Phantom Thread», «You Were Never Really Here») unterlegt ist, schadet natürlich auch nicht. / Alan Mattli / CH-Kinostart: 18.11.2021
«Ninjababy» von Yngvild Sve Flikke
Die 23-jährige Rakel (Kristine Thorp) hat eine Menge Ideen für die Zukunft: Comiczeichnerin, Astronautin, Bier-Testerin. Mutter zu werden, ist keine davon. Als sie aber erfährt, dass sie unerwartet bereits im sechsten Monat schwanger ist, fällt sie aus allen Wolken, kommt doch eine Abtreibung damit nicht mehr in Frage. Der Vater? Entweder der feinfühlige, «nach Butter riechende» Aikido-Trainer Mos (Nader Khademi) oder der noch weniger für ein Kind bereite «Pimmel-Jesus» (Arthur Berning). Regisseurin Yngvild Sve Flikke kreiert einen perfekten Mix aus ernsten Themen und trockenem Humor, aus Live-Action und Animation, der einen in einer Minute zum Nachdenken und in der nächsten zum Tränenlachen bringt. Mit einer erfrischenden Direktheit gelingt ihr damit ein feines Portrait einer jungen Frau, die, entgegen der gesellschaftlichen Erwartungen, nicht Mutter sein will. / Nicoletta Steiger
«Time» von Ricky Ko
Drei pensionierte Auftragskiller*innen versuchen, ihren Lebensabend auf ehrbare Weise zu bestreiten: Gemeinsam beschliessen sie, als Sterbehelfer*innen für alte, einsame Menschen aktiv zu werden, da sie selbst keine Perspektiven mehr haben in dieser Gesellschaft. Das Business der «Elderly’s Angel» läuft erstaunlich gut, was zur Frage führt, wie verzweifelt, alte und vor allem arme Menschen im Hongkong der Jetztzeit sein müssen, der jungen Generation nicht zur Last zu fallen. Die Mission des liebenswerten Trios wird heftig durcheinandergewirbelt, als ein Teenager die Sterbehilfe bucht und durch ihre freche Hartnäckigkeit die Lebensgeister der drei Alten weckt. «Time» ist ein wunderbar schwarzhumoriges Drama, das zeigt, wie wenig es braucht, um die Zeit, die uns noch bleibt, zu feiern. Was würde James Bond dazu sagen? «No time to die.» / Beate Steininger
«È stata la mano di Dio» von Paolo Sorrentino
Es war nur eine Frage der Zeit, bevor Paolo Sorrentino seine eigene Version von Giuseppe Tornatores Neo-Klassiker «Nuovo Cinema Paradiso» (1988) drehen würde: Wie könnte der für seine überschwänglich inszenierte Italianità bekannte Regisseur von «La grande bellezza» (2013) und «Loro» (2018) der Versuchung widerstehen, es Tornatore gleichzutun und seine prägenden Jugendjahre auf die Leinwand zu bannen? Doch so absehbar ein Film wie «È stata la mano di Dio» (international vertrieben als «The Hand of God») auch war, so unerwartet ist er in seiner Ausführung. Ja, Sorrentino schwelgt in der Schönheit seiner Heimatstadt Neapel; er beschwört das Diego–Maradona-Fieber, von dem die Metropole Ende der Achtzigerjahre erfasst wurde; und er bevölkert seinen Film mit herrlich überhöhten Figurenkarikaturen. Doch gleichzeitig zeigt er sich in «È stata la mano di Dio» stiller, introspektiver, melancholischer, als man es sich von ihm gewohnt ist – denn Erinnern bedeutet nicht nur Nostalgie, sondern auch das Bewältigen der kleinen und grossen Familientragödien, die einen ein Leben lang begleiten. / Alan Mattli / CH-Kinostart: 2.12.2021
«Mona Lisa and the Blood Moon» von Ana Lily Amirpour
Mona Lisa (Jeon Jong-seo) ist Insassin in einer Hochsicherheits-Psychiatrie und sie hat eine Superkraft: Sie kann anderen Menschen ihren Willen aufzwingen. Eine unachtsame Pflegerin reicht damit aus, um Mona die Flucht zu ermöglichen. Was klingt, wie der Einstieg zu einem Rache-Horror- oder Superheldenfilm, ist stattdessen etwas ganz Eigenes. Nach ihrer Flucht streift Mona durch die zwielichtigen Gassen von New Orleans und trifft dort auf allerhand kuriose Figuren, wie den überraschend sanftmütigen DJ/Drogendealer Fuzz (Ed Skrein), oder die Stripperin Bonnie (Kate Hudson), welche die finanziellen Möglichkeiten von Monas «Talent» erkennt. Ein hypnotischer Trip durch das von Neonlichtern erhellte New Orleans mit einem treibendem Dubstep-Soundtrack. / Nicoletta Steiger
«The Art of Love» von Philippe Weibel
Wenn aus dem Kraftwerk Selnau ein kleines englisches Sexspielzeug-Unternehmen wird, dann hat nicht nur der Fabriksbesitzer eine Vision, sondern auch der Schweizer Filmemacher Philippe Weibel: Er lässt zwei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, aufeinandertreffen, um Sextoys und Puppen zu emotionalisieren. Eva, Mitte 50, vom Ehemann nicht mehr wahrgenommen, schreibt Bewertungen über die Sex-Gadgets, ohne sie je ausprobiert zu haben. Adam, das potente Aushängeschild der Firma, identifiziert seine Daseinsberechtigung an der Anzahl Followers und Frauen, die er täglich abschleppt. Zusammen sollen die beiden ein Programm erarbeiten, welches das künstliche Sexleben revolutioniert, und erkennen schnell, dass sie dafür ihre emotionale Komfortzone verlassen müssen. Ein wunderbarer Film, der den Zeitgeist der gefühlsmässigen Verwahrlosung trifft, humorvoll und zugleich feinfühlig inszeniert. / Beate Steininger
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Bild- und Trailerquellen: Titelbild: Filmstill aus «The Power of the Dog», Copyright: Netflix / Filmstill aus «The Last Duel», Copyright: Disney / Filmstill aus «Les Olympiades», Copyright: Filmcoopi / Filmstill aus «Memoria», © Sandro Kopp © Kick the Machine Films, Burning, Anna Sanders Films, Match Factory Productions, ZDF-Arte and Piano / Weiteres Material: ZFF und CH-Verleiher
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