Nach elf Tagen und 146 Filmen im Programm fand am Sonntag ein mehrheitlich verregnetes Zurich Film Festival sein Ende. Das herbstliche Wetter lockte viele Filmfans in die warmen Kinosäle und bescherte dem Festival einen neuen Rekord mit 137’000 Besucher*innen. Auch die Maximum-Cinema-Redaktion war vor Ort – hier sind unsere Highlights.
«The Banshees of Inisherin» von Martin McDonagh
Nach der dunkelschwarzen Komödie «In Bruges» (2008) bringt Regisseur Martin McDonagh die beiden Schauspieler Colin Farrell und Brendan Gleeson wieder gemeinsam auf die Leinwand. Und auch diesmal wird es wieder absurd, amüsant und sehr irisch! Schauplatz dafür ist die abgelegene kleine irische Insel Inisherin auf der Colm (Gleeson) und Pádraic (Farrell) einst beste Freunde waren. Doch nun will Colm aus unerklärlichen Gründen sein Guinness lieber alleine bechern. Während für Colm die Sache mit der Freundschaft gegessen ist, lässt der sture – und etwas simple – Pádraic nicht nach. Die unsäglichen Konsequenzen, die er damit auslöst, lassen sich allerdings nicht mal nach einem ganzen Fass Guinness vergessen. / Aline Schlunegger / CH-Kinostart: 12.1.2023
«Until Tomorrow» von Ali Asgari
Die spontane Ankündigung ihrer Eltern, sie in ihrer Wohnung in Teheran besuchen zu kommen, bringt die junge Fereshteh (Sadaf Asgari) ganz schön in Bedrängnis. Denn die Studentin ist inzwischen Mutter eines zwei Monate alten Mädchens, von dessen Existenz ihre Eltern nichts wissen sollen. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin, der schlagfertigen Atefeh (Ghazal Shojaei), macht sie sich nun auf die Suche nach jemandem, der bereit ist, ihre Tochter über Nacht zu sich zu nehmen. Aus der an sich simplen Prämisse gelingt es Regisseur Ali Asgari fast beiläufig, ein komplexes Gesellschaftsporträt zu entwerfen und einen Eindruck von der allgegenwärtigen Repression zu vermitteln, der Frauen im Iran ausgesetzt sind. Und wenn am Ende von «Until Tomorrow» die Kamera mehrere Minuten lang auf Fereshtehs Gesicht ruht, wird deren ganze Verzweiflung und Zerrissenheit auf eine Weise sichtbar, die tief unter die Haut geht und noch lange nachhallt. / Pascal Gut / CH-Kinostart: 26.1.2023
«The Good Nurse» von Tobias Lindholm
Dänische Regisseur*innen tun sich offensichtlich schwer mit dem Sprung ins englischsprachige Kino: Susanne Biers internationales Debüt «Serena» (2014) war ein Flop, während Kollege Thomas Vinterberg gleich mit drei Anläufen – «It’s All About Love» (2003), «Far from the Madding Crowd» (2015) und «Kursk» (2018) – scheiterte. Tobias Lindholm will es nun besser machen und wagt sich nach seiner Oscarnomination für die beklemmende Kriegstrauma-Studie «A War» (2015) erstmals an eine internationale Produktion. «The Good Nurse» mit den bestens aufgelegten Eddie Redmayne («The Theory of Everything») und Jessica Chastain («The Eyes of Tammy Faye») in den Hauptrollen erzählt die wahre Geschichte von einem Spital in New Jersey, in dem 2003 mehrere Patient*innen unter mysteriösen Umständen ums Leben kamen. Die Netflix-Produktion ist ein nüchterner Thriller, der beweist, dass Lindholm auch in internationalen Gewässern den Spannungsaufbau beherrscht wie kaum jemand anderes. / Olivier Samter / CH-Netflix-Start: 26.10.2022
«Medusa» von Anita Rocha da Silveira
Das brasilianische Horrordrama «Medusa» spielt mit einem fiktiven Szenario, in dem Staat und Kirche nicht mehr getrennt sind, aber die Nähe der Story zu aktuellen Entwicklungen in Brasilien ist kaum zufällig. Mariana (Mari Oliveira) ist Teil der lokalen Frauenkirchengruppe, singt im Chor Lieder über Jungfräulichkeit, Gott und Perfektion; und in der Nacht jagt sie mit ihren Freundinnen Sünderinnen in den Strassen. Als sie nach einer solchen Jagd eine Narbe in ihrem Gesicht davonträgt, entspricht sie auf einmal nicht mehr dem gewünschten Ideal von weiblicher Schönheit. Schritt für Schritt beginnt sie, das System zu durchschauen, in dem sie gefangen ist – und daraus auszubrechen. Gefilmt mit vielen hypnotisch-traumähnlichen Sequenzen, in einem Mix aus Neonfarben und Pastell, kreiert Regisseurin Anita Rocha da Silveira ein kraftvolles Werk über eine Gesellschaft, die Frauen und jegliche leidenschaftliche Regung im Allgemeinen unterdrückt. / Nicoletta Steiger
«Aftersun» von Charlotte Wells
Wir schreiben die Neunzigerjahre: Die elfjährige Sophie (Frankie Corio) ist mit ihrem jungen Vater Calum («Normal People»-Star Paul Mescal), den sie seit dessen Scheidung von ihrer Mutter nicht mehr so oft sieht, in den Sommerferien in der Türkei. Mehr braucht Regisseurin und Autorin Charlotte Wells in ihrem Langspielfilmdebüt nicht, um zutiefst bewegendes Coming-of-Age-Kino auf die Leinwand zu bringen: «Aftersun» zeichnet mithilfe subtiler Kameraarbeit, wunderbar unaufgeregter Inszenierung und zweier grossartiger Schauspielleistungen ein empathisches Bild einer Vater-Tochter-Beziehung am Scheideweg. Herzzerreissender wurde der R.E.M.-Klassiker «Losing My Religion» noch nie eingesetzt. / Alan Mattli
«Les Enfants des autres» von Rebecca Zlotowski
Das französische Beziehungsdrama von Rebecca Zlotowski dreht sich um die Lehrerin Rachel (Virginie Efira), die sich frisch verliebt in ihre neue Beziehung mit Ali (Roschdy Zem) stürzt. Doch schon bald nimmt die Honeymoon-Phase der beiden ein Ende und es kommen Konflikte rund um Rachels Kinderwunsch, der in ihrem Alter immer relevanter wird, sowie ihre Beziehung zu Alis vierjähriger Tochter (Callie Ferreira-Goncalves) auf. «Les Enfants des autres» umgeht geschickt stereotype Figuren und schon zigmal Gesehenes und ist nicht zuletzt dank Virginie Efiras herausragender Schauspielleistung sehr berührend. Eine mitreissende und bittersüsse Erinnerung daran, dass keine Beziehung jemals nur einfach ist. / Aline Schlunegger / CH-Kinostart: 5.10.2022 (Romandie)
«Triangle of Sadness» von Ruben Östlund
«The Square» (2017) war für mich das Kinoereignis 2017. Ein Meisterwerk, das mich dreimal ins Kino gehen liess. Entsprechend hoch waren meine Erwartungen an «Triangle of Sadness». Und um es kurz zu machen: Ruben Östlund hat geliefert. Sein Film blickt abermals ganz tief in die hässlichsten und abgründigsten Täler der Menschheit und hält uns einmal mehr radikal den Spiegel vor. Mark Twain trifft auf Influencer-Marketing, Salzstangen auf lauwarmen Pulpo – mal verdaut, mal halt auch nur halb. Nichts für zarte Mägen! / Simon Keller / CH-Kinostart: 13.10.2022

Max Hubacher als Karl in «Sachertorte» / © DCM
«Sachertorte» von Tine Rogoll
Karl (Max Hubacher) trifft am Berliner Bahnhof auf die Wienerin Nini (Michaela Saba) und verliebt sich in sie. Aber Karl verliert ihre Telefonnummer und beschliesst, nach Wien zu ziehen, weil er weiss, dass Nini traditionell an ihren Geburtstag um 15 Uhr im Café Sacher sitzt, um die weltberühmte Torte zu geniessen. Er weiss aber nicht, wann sie Geburtstag hat, also sitzt er jeden Tag um 15 Uhr im Sacher, um die wahre Liebe zu finden. Regisseurin Tine Rogoll zeigt in ihrem Regiedebüt, dass sich Tradition und Moderne hervorragend ergänzen können und es sich lohnt, aus früheren romantischen Komödien, wie «Before Sunrise» (1995) oder «Notting Hill» (1999) etwas unkompliziert Neues zu machen. Nebenbei holt uns «Sachertorte» aus der Komfortzone, um aufzuzeigen, dass wir manchmal aktiv die Chancen ergreifen müssen, um unser Glück zu finden. / Beate Steininger / Amazon-Prime-Start: 18.11.2022
«All the Beauty and the Bloodshed» von Laura Poitras
Wer Laura Poitras durch ihre gefeierte Edward–Snowden-Dokumentation «Citizenfour» (2014) kennt, wird sich in «All the Beauty and the Bloodshed» wohl kurz die Augen reiben, hat die Regisseurin damit doch einen vordergründig traditionellen Dokumentarfilm gemacht – mitsamt Voiceover und klassisch inszenierten Interviewclips. Doch das macht den Film, der bei den diesjährigen Filmfestspielen von Venedig die höchste Ehrung erhielt, nicht minder relevant und mitreissend: Poitras porträtiert hier die Fotografin Nan Goldin und erzählt anhand ihrer aussergewöhnlichen Vita von zwei verheerenden Epidemien – der AIDS-Katastrophe in den Achtziger- und Neunzigerjahren und der anhaltenden Opioidkrise in den USA. Goldin erlebte Erstere als Mitglied der dynamischen New Yorker LGBTQ+-Szene hautnah mit und wurde im Zuge einer Medikamentbehandlung beinahe zu einem der zahllosen Todesopfer von Letzterer. «All the Beauty and the Bloodshed» vereint diese Erfahrungen zu einer Protestschrift gegen die reaktionäre Politik des Desinteresses, zu einem Denkmal für den Widerstand gegen diese Politik und zu einem lauten Statement gegen die Architekt*innen der Opioidkrise, die ihren Namen mit Kunstschenkungen reinzuwaschen versuchen. Klassischere Form hin und oder her – Poitras bleibt hochgradig politisch. / Alan Mattli
«Le Petit Nicolas: Qu’est-ce qu’on attend pour être heureux?» von Amandine Fredon und Benjamin Massoubre
Der Film mit dem wohl mühsamsten Titel am Zurich Film Festival ist der x-te Versuch, die Geschichten des kleinen Nick – oder wie er im französischen Original heisst: le petit Nicolas – auf die Leinwand zu bringen. Anders als die beiden Realverfilmungen von Laurent Tirard (2009/2014) bleibt das Regie-Duo Amandine Fredon und Benjamin Massoubre diesmal der gezeichneten Vorlage treu und inszeniert die Geschichten als Animationsfilm – der zudem die beiden Nicolas-Erfinder, Autor René Goscinny und Zeichner Jean-Jacques Sempé, gleich selber Teil der Geschichte werden lässt. Ein charmanter Kniff, der dem Erzählten nicht nur einen roten Faden, sondern auch den nötigen Tiefgang verleiht. «Le Petit Nicolas: Qu’est-ce qu’on attend pour être heureux?» ist ein Film, der seinem Publikum stets auf Augenhöhe begegnet und ihm viel zutraut. / Olivier Samter / CH-Kinostart: 1.12.2022
«Broker» von Hirokazu Kore-eda
«Broker» ist, wie zuletzt «Minari» (2020), so ein Film, der ganz tief ins Herz geht, der uns im Kino zum Weinen und zum Lachen bringt: Es wird traurig, aber das Ganze ist auch durchsetzt von Szenen, die vor Freude so hell leuchten, dass einem das Grinsen schon fast wie nach einer Botox-Behandlung gar nicht mehr aus dem Gesicht geht. Die südkoreanische Odyssee des japanischen Familien-Puzzle-Meisters Hirokazu Kore-eda («Shoplifters») um eine Babyklappe ist eine wahre Wohltat. Unaufgeregt, bescheiden, mit viel Substanz und absolut grossartigem Cast. / Simon Keller / CH-Kinostart: 22.12.2022
«Cinco lobitos» von Alauda Ruiz de Azúa
Nachdem ihre neugeborene Tochter eines Abends vom Sofa fällt, macht sich die sowieso schon heillos überforderte junge Mutter Amaia (Laia Costa) schwere Vorwürfe. Auf die Hilfe ihres Mannes Javi (Mikel Bustamante) kann sie nicht zählen, da er berufsbedingt für eine Weile verreisen musste. Schliesslich bleibt Amaia nichts anderes übrig, als das Angebot ihrer Eltern anzunehmen und mit ihrer Tochter für eine Weile zu ihnen an die baskische Küste zu fahren. Als dann nach einigen Wochen plötzlich ihre Mutter (Susi Sánchez) schwer erkrankt, kommt es zum Rollenwechsel: Nun ist es Amaia, die ihren Eltern helfen muss, mit der schweren Situation zurechtzukommen. Mit grosser Leichtigkeit, einem unverschämt sympathisch aufspielenden Cast und viel Herzenswärme erzählt Alauda Ruiz de Azúa in «Cinco lobitos» eine universelle Geschichte von Eltern und Kindern und den gegenseitigen Abhängigkeiten – von Verbundenheit und Ablösung, von Liebe, Wut, Enttäuschung und Trauer. / Pascal Gut
«The Menu» von Mark Mylod
Tyler (Nicholas Hoult) gönnt sich und seiner Begleiterin Margot (Anya Taylor-Joy) ein exklusives Dîner im Inselrestaurant des Meisterkochs Slowik (Ralph Fiennes). Neben dem prämierten Essen erwartet die Gäste auch eine raffinierte Inszenierung des mehrgängigen Menüs – doch was Chef Slowik an diesem Abend geplant hat, hat wohl niemand erwartet. «The Menu» ist eine wunderbare Satire auf die Klassengesellschaft, die Regisseur Mark Mylod («What’s Your Number», «Game of Thrones») genauso sorgfältig angerichtet hat wie Slowik seine kulinarischen Kreationen. Langsam bringt der Meisterkoch seine Gäste dazu, sich selbst offenzulegen, während der Abend immer unbequemer wird und schliesslich eskaliert. Humorvoll, intensiv bedrückend und vielschichtig: ein perfektes Menü. / Nicoletta Steiger / CH-Kinostart: 17.11.2022
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Titelbild: Zurich Film Festival und Schweizer Verleiher
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