Vom 3. bis 13. Oktober fand in Zürich zum 20. Mal das Zurich Film Festival statt und übertraf mit 140’000 Zuschauer*innen seinen bisherigen Publikumsrekord. Auch die Maximum-Cinema-Redaktion war dabei und stellt ihre Lieblingstitel des 107 Filme umfassenden Programms vor.
«Flow» von Gints Zilbalodis
Nach seinem Debüt «Away» (2019), das er komplett in Eigenregie inszenierte, hat sich Gints Zilbalodis für seinen zweiten Animationsfilm ein grosses Team an Bord geholt – und auch deutlich mehr Budget. Die Zurückhaltung und der Fokus aufs Wesentliche ist dem lettischen Filmemacher aber trotz mehr Ressourcen erhalten geblieben. Die Geschichte über eine Katze, die sich gemeinsam mit anderen Tieren vor einer apokalyptisch anmutenden Sintflut retten muss, ist charmant und mit viel Feingefühl inszeniert und thematisiert dabei – ganz ohne Worte – auch Fluchterfahrungen, Rassismus und Heimweh. Der visuell verspielte 3D-Animationsfilm «Flow» ist ungemein menschlich, aber nie cartoonhaft – und dadurch deutlich spannender als das, was grosse Animationsstudios mit so einem Stoff angestellt hätten. / CH-Kinostart: 5.12.2024 / Olivier Samter
«Black Box Diaries» von Shiori Itō
«Zeige nicht dein Gesicht», bittet ihre Schwester, kurz bevor Shiori Itō eine Pressekonferenz ablegt. Dort erklärt die Journalistin, umgeben von Mikrofonen und Blitzlichtern, dass sie vergewaltigt wurde – von einem Kollegen, einem bekannten Journalisten mit Verbindungen zur höchsten Politik. Nachdem die Behörden ihren Fall abgewiesen haben, entschliesst sich Itō, ihre Geschichte öffentlich zu machen. Die Journalistin und Filmemacherin zeigt nicht nur ihr Gesicht, sondern nimmt die Welt mit auf eine persönliche Reise, in der sie die rechtlichen und gesellschaftlichen Probleme Japans im Umgang mit sexualisierter Gewalt aufdeckt. «Black Box Diaries» dokumentiert ihre achtjährige Suche nach Gerechtigkeit und ist eine Anklage gegen das patriarchalische System Japans, das Frauen systematisch unterdrückt und Überlebende sexualisierter Gewalt beschuldigt, anstatt sie zu schützen. Der Film gewann beim Zurich Film Festival sowohl den Preis für den besten Dokumentarfilm als auch den Publikumspreis. In Japan kann der Film derzeit jedoch nicht gezeigt werden, da sich kein Filmverleih bereit erklärt hat, ihn zu vertreiben. / CH-Kinostart: 31.10.2024 / Severin Miszkiewicz
«Le Royaume» von Julien Colonna
Das Grillenzirpen wird immer lauter, bis es fast unerträglich laut ist im Saal. «Le Royaume» vom korsischen Filmemachers Julien Colonna setzt von der ersten Sekunde an einen intensiven Ton an, der einen bis am Ende nicht mehr loslässt. Vor der Kulisse eines Sommers in Korsika 1995 verpackt der Film eine Vater-Tochter-Geschichte à la «Aftersun» (2022) in einem fesselnden Thriller. Die jugendliche Lesia (Ghjuvanna Benedetti) ist gezwungen, viel schneller, als ihr lieb ist, erwachsen zu werden, als sie in die mafiösen Machenschaften ihrer männlichen Verwandschaft rutscht. / Aline Schlunegger
«The Room Next Door» von Pedro Almodóvar
Wann stirbt man wirklich? Wenn das Herz zu schlagen aufhört? Oder wenn man seine Lieblingsfilme nicht mehr geniessen, seine Lieblingsautor*innen nicht mehr lesen kann? In seinem englischsprachigen Langspielfilmdebüt setzt sich der spanische Kultregisseur Pedro Almodóvar («Todo sobre mi madre», «Volver», «Madres paralelas») mit genau diesen Fragen auf tief berührende – und wie gewohnt visuell raffinierte – Art und Weise auseinander. Im Zentrum steht dabei die Schriftstellerin Ingrid (Julianne Moore), die erfährt, dass ihre alte Freundin Martha (Tilda Swinton) schwer an Krebs erkrankt ist. Diese sieht dem Tod zwar einigermassen gelassen entgegen, will aber nicht zum Pflegefall werden – also verwickelt sie Ingrid in einen speziellen Selbstmordplan. Mit seinen vielschichtigen, subtil perfiden Figuren, seiner offenherzigen Liebe für die Kunst und seiner aufrichtigen Auseinandersetzung mit Erinnerungen und dem Privaten, das auch immer irgendwie politisch ist, ist «The Room Next Door» Almodóvar in Reinform. / CH-Kinostart: 12.12.2024 / Alan Mattli
«Thelma» von Josh Margolin
Die 93-jährige Thelma (June Squibb) fällt auf einen Telefonbetrüger herein und wird um 10’000 Dollar betrogen. Weil sie sich dafür schämt, was ihr passiert ist, und sich in ihrer eigenen Familie die Diskussionen um ihre zunehmende Gebrechlichkeit häufen, will sich die exzentrische Dame selbst darum kümmern, ihr Geld zurückzuholen. Hilfe bekommt sie dabei von ihrem einzigen noch lebenden Bekannten Ben (Richard Roundtree) und dessen E-Scooter. Mit viel Humor, Stickereivorlagen, Hörgeräten und schmerzenden Gelenken macht sich das greise Actionpaar auf, die Übeltäter zu finden. «Thelma», das Langfilmdebüt von Josh Margolin, ist eine wunderbare Hommage an die Selbstbestimmung älterer Menschen mit all den dazugehörenden Themen – und ein kurzweiliger Spass für die ganze Familie. / CH-Kinostart: 17.10.2024 / Zur ausführlichen Kritik / Beate Steininger
«Conclave» von Edward Berger
Der Papst ist tot. «Conclave» des schweizerisch-österreichischen Regisseurs Edward Berger («Im Westen nichts Neues») erzählt von den Machtkämpfen und Intrigen, die sich im Zuge der Nachfolgewahl im Vatikan abspielen. Das als atemloser Politthriller im Geiste von «House of Cards» (2013–2018) angelegte Kammerspiel wirft grosse Fragen zur Rolle von Religion und Kirche in der heutigen Zeit auf, punktet aber vor allem durch seine nüchterne Figurenzeichnung und die überzeugenden Schauspielleistungen. Insbesondere Ralph Fiennes («Skyfall», «The Grand Budapest Hotel») ist in der Hauptrolle mit seinem zurückhaltenden Spiel, das Bergers eindrucksvolle, bombastische Inszenierung kontrastiert, überragend. / CH-Kinostart: 28.11.2024 / Olivier Samter
«All Shall Be Well» von Ray Yeung
In der Manier seines grossen Vorbilds, des Hongkonger Drama-Experten Stanley Kwan («Women», «Full Moon in New York»), erzählt Ray Yeung in «All Shall Be Well» die bewegende Geschichte von Angie (herausragend: Patra Au), die nach dem Tod ihrer langjährigen Partnerin Pat (Maggie Li Lin Lin) plötzlich vor dem Nichts steht. Voller Empathie porträtiert Yeung Angie, die nicht nur mit dem Verlust ihrer Lebenspartnerin zu kämpfen hat, sondern auch mit dem Gefühl, Teil eines Familiengefüges zu sein – denn Pats Tod gibt ihrem Bruder und dessen Familie die Chance, aus ihren eigenen finanziellen Schwierigkeiten zu entkommen. «All Shall Be Well» ist ein grossartig unspektakulärer Film über Familie, queere Solidarität und die konkreten Effekte von Gesetzgebungen, die gleichgeschlechtliche Partnerschaften nicht als gleichwertig anerkennt. / CH-Kinostart: 17.10.2024 / Zur ausführlichen Kritik / Alan Mattli
«Memoir of a Snail» von Adam Elliot
Das Leben geht weiter, auch wenn es manchmal nur im Schneckentempo voranschreitet: «Memoir of a Snail» erzählt die Geschichte von Grace Pudel (gesprochen von Sarah Snook), einer unscheinbaren Frau, die im Laufe ihres Lebens viele Tragödien überwindet. Von traumatischen Kindheitserlebnissen bis hin zu schwerwiegenden Beziehungsproblemen meistert Grace jede Hürde, die ihr das Leben in den Weg stellt. Trotz scheinbarer Hoffnungslosigkeit trifft sie immer wieder auf Menschen, die ihr neuen Lebensmut schenken. Langsam lernt Grace, ihre Narben zu akzeptieren und ihren Weg weiterzugehen – beharrlich und stetig, wie eine Schnecke. Regisseur Adam Elliot, bekannt für «Mary and Max» (2009), erweckt erneut eine Stop-Motion-Welt zum Leben, welche die traurigsten Abgründe des menschlichen Daseins auslotet. Seine Figuren bewegen sich in einer grauen, trostlosen Umgebung, die ihre Ausweglosigkeit widerspiegelt. Doch inmitten dieser Tristesse entfalten sich die liebevollen Momente mit umso grösserer Wucht und treiben dem Publikum die Tränen in die Augen. / CH-Kinostart: 26.12.2024 / Severin Miszkiewicz
«Heretic» von Scott Beck und Bryan Woods
Wenn die Protagnist*innen in Horrorfilmen intelligent handeln, fordert dies jeweils auch den Gegenspieler dazu auf, interessantere Tricks als üblich in der Hinterhand zu haben. Das gilt nicht zuletzt in der ersten Hälfte von «Heretic», in der Mr. Reed (Hugh Grant) zwei junge Mormoninnen auf Missionierungstour in seinem Haus in ein psychologisches Katz- und Maus-Spiel um Glauben und Religion verwickelt, bevor die Dinge noch mehr eskalieren. Grants enigmatisch-unheimliche Präsenz füllt die Leinwand, oft auch wortwörtlich, wenn die Kamera Mr. Reeds sadistische Freude an seinen Psychospielen aus nächster Nähe einfängt. «Heretic» setzt auf intensiv-steigenden Grusel statt auf kurzfristige Schockmomente. / CH-Kinostart: 26.12.2024 / Nicoletta Steiger
«Veni Vidi Vici» von Daniel Hoesl und Julia Niemann
Nach der Dokumentation «Davos» (2020), die sich kritisch mit dem WEF auseinandersetzte, widmet sich das österreichische Regieduo Daniel Hoesl und Julia Niemann mit dem Spielfilm «Veni Vidi Vici» einmal mehr den Verstrickungen von Politik, Wirtschaft und Medien. Die «Kapitalismus-Groteske» dreht sich um den charismatischen und einflussreichen Milliardär Amon Maynard (Laurence Rupp), für den Ethik pure Zeitverschwendung ist, und der gemeinsam mit seiner Ehefrau Viktoria (Ursina Lardi) und seinen entzückenden Kindern ein perfektes Familienleben im weitläufigen Palais lebt. Zur Entspannung geht er am Wochenende auf die Jagd – aber nicht auf Tiere, denen er nie etwas zuleide tun könnte. Maynard schiesst stattdessen auf zufällig ausgewählte Menschen. Stoppen kann ihn niemand: Zu gross ist seine Macht, zu sehr sind Politik und Wirtschaft abhängig von seiner Gunst – und notfalls hält ihm Viktoria, eine erfolgreiche Anwältin, den Rücken frei. «Veni Vidi Vici» ist ein Film, der einem bewusst macht, dass wir mehr übers Geld reden sollten, und wie wenig es bringt, sich ehrlich etwas aufzubauen. / Beate Steininger
«Anora» von Sean Baker
Sean Bakers bislang wohl populärster Film ist das feinfühlige Drama «The Florida Project» (2017), das in einem Motel am Rande von Disney World spielt, in dem sich verschiedene Vertreter*innen der amerikanischen Arbeiter- und Unterschicht niedergelassen haben. Das Milieu ist typisch für Baker, nicht aber der Tonfall: Denn seine anderen Filme – darunter «Tangerine» (2015) und «Red Rocket» (2021) – zeichnen sich durch aberwitzige Figuren und wilden Humor aus. Und sein neuester Film, der Palme-d’or-Gewinner «Anora», treibt das noch einmal auf die Spitze. Hier erzählt Baker von der Stripperin Ani (grossartig: Mikey Madison), die sich auf eine Wirbelwindromanze mit dem verzogenen russischen Oligarchenbengel Vanya (Mark Eydelshteyn) einlässt, die schliesslich in eine absurde Jagd durch das nächtliche New York mündet. «Anora» ist ein bisschen «Uncut Gems» (2019), ein bisschen «After Hours» (1985), ein bisschen groteske Screwball-Komödie und ein bisschen nüchterner Sozialrealismus – und Baker gelingt die Mischung perfekt. / CH-Kinostart: 31.10.2024 / Alan Mattli
«The End» von Joshua Oppenheimer
Eine reiche Familie bunkert sich in einer alten Salzmine ein und lebt dort weiterhin ihr altes, ausschweifendes Leben – während draussen die Welt brennt. Das Spielfilmdebüt «The End» des Dokumentarfilmregisseurs Joshua Oppenheimer («The Act of Killing», «The Look of Silence») ist ein in vielerlei Hinsicht gewagtes Werk – aber vor allem deshalb, weil der Regisseur seine dystopische Erzählung als pompöses, selbstironisches, zweieinhalbstündiges Musical anlegt. Auf den Schultern der dieser Herausforderung glücklicherweise gewachsenen George MacKay («1917», «La Bête»), Tilda Swinton («The Dead Don’t Die», «The Room Next Door»), Michael Shannon («The Shape of Water») und Moses Ingram («Obi-Wan Kenobi») wird aus diesem Stoff eine zynische, anklagende Fabel über Reichtum und Privilegien – insbesondere das Privileg, sich im Angesicht der Apokalypse selber belügen zu können – sowie patriarchale Verstrickungen. Wie Oppenheimer dieses fragile Familienkonstrukt ins Wanken bringt – auch visuell – und dennoch irgendwie aufrechterhält, ist spektakulär. / Olivier Samter
«Aiming High: A Race Against the Limits» von Alun Meyerhans und Flavio Gerber
Die Hybris des Menschen gegen die Gewalt der Natur: «Aiming High: A Race Against the Limits» dokumentiert ein ehrgeiziges Projekt am Fusse des Matterhorns. Dort soll das weltweit erste grenzüberschreitende und höchstgelegene Skirennen der Welt ausgerichtet werden. Der Startpunkt liegt in der Schweiz auf 3’800 Metern über Meer; das Ziel befindet sich in Italien. Eine Idee, die Mensch und Technik an ihre Grenzen bringt und schliesslich spektakulär scheitert. Zu extrem sind die Bedingungen auf dem Gipfel, zu schwerwiegend die Auswirkungen des Klimawandels. Die Dokumentation beleuchtet die Höhen und Tiefen des Vorhabens und lässt prominente Skistars wie Marco Odermatt und Lara Gut-Behrami zu Wort kommen. Produziert von der Zürcher Produktionsfirma Filmgerberei, zeigt «Aiming High» technische Herausforderungen und menschliche Entschlossenheit. Mit beeindruckenden Bildern und persönlichen Einblicken wird der Dokumentarfilm zu einem Appell, die Natur zu respektieren und die Auswirkungen des Klimawandels ernst zu nehmen. / Severin Miszkiewicz
«Good One» von India Donaldson
Sam (Lily Collias) begleitet ihren Vater (James Le Gros) und dessen Kumpel Matt (Danny McCarthy) auf einem Wanderwochenende in den Catskill Mountains. Alle drei schleppen dabei nicht nur Rucksäcke, sondern jede Menge unausgesprochene Frustrationen mit sich herum. Das Regiedebüt von India Donaldson orientiert sich unübersehbar am Werk von Kelly Reichardt («Certain Women», «First Cow») – soll heissen: gemächliches Erzähltempo, naturalistische Dialoge, viel Natur – und muss den Vergleich nicht scheuen: «Good One» ist eine einfühlsame, unverhohlen queere Tragikomödie über das Erwachsenwerden, angekratzten männlichen Stolz und dessen Konsequenzen. / Alan Mattli
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