Eine besondere Hochzeit soll in Gitta Gsells «Beyto» die Tradition vor der Moderne retten. Denn das Einzige, was zählt, ist die Familie und die Ehre, und nicht die persönlichen Bedürfnisse einzelner Menschen, die in ebendiese Tradition hineingeboren wurden. Für drei junge Menschen wird diese Gratwanderung der Kulturen zur Zerreissprobe.
Beyto (Burak Ates) lebt seit seiner Kindheit in Bern. Er ist ein begnadeter Schwimmer und könnte es schaffen, die Schwimmmeisterschaften zu gewinnen. Daneben absolviert er erfolgreich seine Lehre und ist beliebt bei seinen Freunden und Kolleginnen. Er ist der ganze Stolz seiner Eltern Seyit (Serkan Tastemur) und Narin (Beren Tuna). Sie kamen einst in die Schweiz, um für sich, aber vielmehr für ihre Familie in der Türkei, ein besseres Leben aufzubauen. Sie arbeiten hart und unterstützen nicht nur die türkische Community in Bern, sondern auch die Daheimgebliebenen in Anatolien. Beyto liebt seine Eltern und fühlt sich seiner Herkunft sehr verbunden. Trotzdem ist die Schweiz sein Zuhause, und seine Zukunftspläne sind frei von traditionellen Vorgaben.
Das ändert sich, als er sich in seinen Trainer Mike (Dimitri Stapfer) verliebt und die heile Welt der Eltern zusammenbricht. Sie sind beschämt und fürchten um ihre Ehre. «Ich weiss nicht, was diese Männer gegen Frauen haben?», unterbricht Narin ihren Sohn, als er sie vorsichtig mit dieser Tatsache konfrontieren will.
Die Eltern beschliessen, dass Beyto seine Sandkasten-Freundin Seher (Ecem Aydin) aus dem Heimatdorf heiraten soll. Die Hochzeit wird ohne sein Wissen geplant; gemeinsam fliegt die Familie nach Anatolien, um ihn dort mit Seher zu vermählen. Das ist der Zeitpunkt, an dem alles aus den Fugen gerät: Beytos Wertschätzung gegenüber seinen Eltern und den Traditionen gerät ins Wanken. Seher würde als zurückgelassene Ehefrau aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und könnte weder eine Ausbildung beginnen noch ein zweites Mal verheiratet werden. Und Mike wartet ahnungslos in Bern auf Beytos Rückkehr und kann die Verbannung der Homosexualität in dieser Kultur nicht verstehen, obwohl er selbst aus diesem Grund keinen Kontakt mehr zu den eigenen Eltern hat.
Man fragt sich zunehmend: Wieso wehrt sich Beyto nicht gegen diese Zwangsheirat? Wieso outet er sich nicht, bevor es zu spät ist? Seine Zerissenheit schmerzt beim Zusehen und wird spätestens bei der Hochzeitszeremonie schier unerträglich. Und auch seine Eltern leiden und versuchen alles, um das Bild der glücklichen Familie nach aussen zu wahren.
«Die Regisseurin Gitta Gsell zeigt dieses brandaktuelle Thema anhand der Geschichte Beytos, ohne es zu bewerten.»
Diese Fragen werden nicht beantwortet, und das sollte man auch nicht erwarten. Die Regisseurin Gitta Gsell («Bödälä») zeigt dieses brandaktuelle Thema anhand der Geschichte Beytos, ohne es zu bewerten. Die Eltern leben ihr traditionelles Leben in der Schweiz weiter. Sie leben für ihre Familie und haben nicht vor, eine für sie fremde Kultur anzunehmen. Sie sehen nicht, dass dies bei ihrem Sohn einen Konflikt auslöst – das Kulturerbe zu bewahren, aber sich gleichzeitig im Hier und Jetzt frei zu bewegen.
Die Familie steht über allem. Beyto versucht nach der Hochzeit zu fliehen. Der Onkel fängt ihn am Flughafen ab. Beyto gesteht, dass er mit Mike leben will; der Onkel antwortet: «Die Liebe kann warten. Zuerst braucht Seher eine Ausbildung und dann seht ihr weiter.»
Die Hochzeit durchzuziehen, ist auch für seine Eltern eine innere Tortour. Wenn Narin ihren Sohn einkleidet, wirkt es so, als würde sie ihn einerseits gewaltsam in den Hochzeitsanzug zwängen, um die Wichtigkeit der Familie zu verteidigen; und andererseits scheint es, als ob sie sich zunehmend selbst davon überzeugen muss, dass sie das Richtige tut. Dabei ist sie sich längst nicht mehr sicher, was richtig ist. Die Verzweiflung aller Darstellenden ist so spürbar, dass es nicht viele Worte braucht, um die Unsicherheit der ganzen Familie zu beschreiben.
«Es ist den grandiosen Schauspieler*innen zu verdanken, dass diese Gefühle so authentisch vermittelt werden können.»
Es ist den grandiosen Schauspieler*innen zu verdanken, dass diese Gefühle so authentisch vermittelt werden können. Gsell wollte explizit die Protagonist*innen mit türkischsprachigen Darstellenden besetzen. Neben den Profis Serkan Tastemur («Al-Shafaq») und Beren Tuna («Köpek») brilliert Burak Ates als Beyto zum ersten Mal auf der Kinoleinwand. Laut Gsell war es nicht einfach, einen Hauptdarsteller mit Migrationshintergrund zu finden, der bereit war, die Rolle eines Homosexuellen zu übernehmen. Ähnlich war es mit den Dreharbeiten in Anatolien: Die Dorfbewohner konnten nicht über den ganzen Inhalt des Films aufgeklärt werden.
Yusuf Yeşilöz‘ Roman «Hochzeitsflug» (2011) hat in Gitta Gsell eine mutige Regisseurin gefunden, die ihn zusammen mit den fantastischen Darstellenden stimmig auf die Leinwand bannen konnte.
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Kinostart Deutschschweiz: 29.10.2020
Filmfakten: «Beyto» / Regie: Gitta Gsell / Mit: Burak Ates, Dimitri Stapfer, Ecem Aydin, Beren Tuna, Serkan Tastemur / Schweiz / 98 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Frenetic Films AG
In «Beyto» versuchen drei junge Menschen, im Spannungsfeld zwischen Kulturerbe und Moderne, ihren Platz zu finden. Stimmig und brandaktuell.
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