In «Broker» hilft eine junge Mutter zwei Menschenhändlern dabei, ihr Baby zu verkaufen. Was nach geschmackloser schwarzer Komödie klingt, ist – «Shoplifters»-Regisseur Hirokazu Kore-eda sei Dank – ein ebenso berührendes wie unterhaltsames Roadmovie über eine vom Leben zusammengewürfelte Fast-Familie.
Es heisst, Freund*innen kann man sich aussuchen, aber Familie hat man, ob man nun will oder nicht. Etwas anders sieht das im Kino von Hirokazu Kore-eda aus. Hier sind familiäre Einheiten selten an biologische Verwandtschaften gebunden; was zählt, sind die emotionalen Bindungen oder aber die Zwecksgemeinschaft: Kore-edas wohl bekanntester Film, der Palme-d’or-Gewinner «Shoplifters» (2018), handelt von einer Familie von Ladendieb*innen, deren Verwandtschaftsgrade nicht über jeden Zweifel erhaben sind. Doch schon vorher dominierte diese Idee das Schaffen des japanischen Regisseurs: In «Nobody Knows» (2004) stehen vier Halbgeschwister im Mittelpunkt, von denen jedes einen anderen Vater hat. In «Like Father, Like Son» (2013) erfährt ein Ehepaar, dass ihr Sohn nach der Geburt versehentlich vertauscht wurde. «Our Little Sister» (2015) erzählt von vier Schwestern, die nach dem Tod ihres entfremdeten Vaters ihre Beziehung zueinander neu aushandeln.
Mit «Broker», Kore-edas neuestem Film, scheint dieses thematische Interesse an «gefundenen Familien» einen vorläufigen Höhepunkt erreicht zu haben: Ausgangspunkt ist Moon So-young (Lee Ji-eun, auch bekannt als Sängerin IU), eine junge Frau, die ihr Baby Woo-sung (Park Ji-yong) vor der Babyklappe einer Kirche in Busan hinterlegt. Das wiederum erfreut den Wäschereibesitzer Ha Sang-yeon (Song Kang-ho) und die Kirchenputzhilfe Dong-soo (Gang Dong-won): Die beiden haben nämlich ein einträgliches Geschäft daraus gemacht, Babys aus der Babyklappe zu stehlen und an Paare zu verkaufen, die den langwierigen legalen Adoptionsprozess umgehen wollen oder wegen gesetzlicher Einschränkungen – etwa für gleichgeschlechtliche Paare oder Immigrant*innen mit prekärem Aufenthaltsstatus – gar nicht erst als Adoptiveltern infrage kommen.

Lee Ji-eun, Gang Dong-won und Song Kang-ho in «Broker» / © 2022 Ascot Elite Entertainment Group. All Rights Reserved.
Doch dann geschieht das Unerwartete: So-young überlegt es sich anders, will Woo-sung zurückholen und kommt dabei Sang-yeon und Dong-soo, die für den Säugling bereits ein Gebot erhalten haben, auf die Schliche. Aber anstatt die zwei Baby-«Broker» anzuzeigen, gesellt sich So-young kurzerhand zu ihnen, verlangt 50 Prozent des Gewinns und fährt mit ihnen in einem klapprigen Kleinlaster zur geplanten Übergabe. Als sich die Adoptiveltern in spe jedoch als unhöfliche Snobs herausstellen, legt sie ihr Veto ein. So beginnt eine Fahrt quer durch Südkorea, auf der Suche nach den besten Eltern – und dem Höchstgebot.
Was das Trio aber nicht ahnt: Ihnen sind die überarbeiteten Polizistinnen Soo-jin (Bae Doona) und Lee (Lee Joo-young) auf den Fersen, die dringend darauf angewiesen sind, dass Woo-sung verkauft wird – denn anders können sie ihre Menschenhandel-Ermittlungen gegen Sang-yeon und Dong-soo nicht erfolgreich abschliessen.
«Eine verzweifelte junge Mutter, elternlose Kinder, Menschenhandel, Prostitution, Mord – es sind gewichtige, nicht eben erbauliche Themen, mit denen Kore-eda hier hantiert. Und trotzdem ist ‹Broker› alles andere als ein deprimierender Arthouse-Film.»
Eine verzweifelte junge Mutter, elternlose Kinder, Menschenhandel, irgendwann kommen auch noch unabsichtliches Kidnapping, unfreiwillige Prostitution und sogar Mord dazu – es sind gewichtige, nicht eben erbauliche Themen, mit denen Kore-eda hier hantiert. Und trotzdem ist «Broker» alles andere als ein deprimierender Arthouse-Film: Es werden munter Witze über die absurde Situation gerissen; immer wieder zanken sich Sang-yeon und Dong-soo in bester «3 Godfathers»/«Tokyo Godfathers»/«Three Men and a Baby»-Manier darum, wer das Ersatzvatersein nun besser beherrscht; und Song Kang-ho brilliert, wie er es regelmässig in den Filmen von Bong Joon-ho tut, von «Memories of Murder» (2003) über «The Host» (2006) bis «Parasite» (2019), in der Rolle des liebenswürdigen Schelms auf der Grenze zwischen Comic-Relief und tragischem Helden.
Gleichzeitig ist Kore-eda, der hier wie üblich neben der Regie auch für Drehbuch und Schnitt zeichnet, aber auch sehr bedacht darauf, die einzelnen Figuren individuelle emotionale Entwicklungen durchlaufen zu lassen und die verschiedenen Handlungsstränge erzählerisch und thematisch stimmig aufzulösen. Vom scheinbar immer gut gelaunten Sang-yeon, dessen aufrichtige Kinderliebe und dessen kriminelle Karriere denselben alltäglichen Hintergrund haben, über Dong-soo, der seine Wut über seine eigene Vergangenheit als Waisenkind an So-young auslässt, der das Leben – und die wirtschaftliche Lage – ebenfalls übel mitgespielt hat, bis hin zum elternlosen, dafür umso fussballverrückteren Son–Heung–min-Verehrer Hae-jin (Im Seung-soo) und der zynisch gewordenen Ermittlerin Soo-jin – sie alle erweisen sich im Laufe von 129 Filmminuten als vielschichtige Menschen, bei denen der erste Eindruck definitiv trügt.

Bae Doona und Lee Joo-young / © 2022 Ascot Elite Entertainment Group. All Rights Reserved.
Dass diese Mischung aus menschlichem Drama und Gangster-Roadmovie mit komödiantischen Einschlägen nicht zu einer bizarren Genre- und Tonfall-Karambolage verkommt, sondern als sanftes, berührend empathisches Sozialrealismus-Märchen über Familienbande und das Überleben im Prekariat in Erinnerung bleibt, ist vor allem Kore-edas sorgfältiger Figurenzeichnung und den herausragenden Schauspieler*innen geschuldet. Denn obwohl sie die Leinwand mit Song Kang-ho teilen, dem wohl besten Charakterdarsteller des Gegenwartskinos, gelingt es Gang Dong-won, Lee Ji-eun und Bae Doona mühelos, nicht von Songs Charisma überstrahlt zu werden: Gerade Bae nutzt ihre vergleichsweise wenigen Szenen optimal, um ein anregend zwiespältiges Bild einer Polizistin zu zeichnen, welche die Voreingenommenheit des Gesetzes – die Praxis, Jagd auf kleine Fische wie Sang-yeon und Dong-soo zu machen, anstatt das Problem an der Wurzel, der sozialen Ungleichheit zu bekämpfen – mehr oder weniger bewusst zu ihrem eigenen Vorteil einzusetzen weiss.
«Der Preis, den ‹Broker› für diese ordentlichen dramaturgischen Bögen bezahlt, ist, dass das Ganze letztlich ein wenig zu rund, ein bisschen zu konventionell bittersüss wirkt.»
Der Preis, den «Broker» für diese ordentlichen dramaturgischen Bögen bezahlt, ist, dass das Ganze letztlich ein wenig zu rund, ein bisschen zu konventionell bittersüss wirkt. Die vielen unausgesprochenen Konflikte werden in einer visuell klar markierten Reihe von Szenen abgehandelt: Figuren sitzen sich an Tischen und in Riesenradgondeln gegenüber und trauen sich endlich, ihre Ängste und Probleme mit einem anderen Menschen zu teilen. Das Schaffen von zwischenmenschlichen Verbindungen wird von Händen symbolisiert, die von ausserhalb des Bildrahmens in die Einstellung hineinreichen und den Kontakt zur anderen Person suchen.

© 2022 Ascot Elite Entertainment Group. All Rights Reserved.
«‹Broker› mag kein ‹Shoplifters› sein – doch er ist eine unterhaltsame, anrührende, oft überraschend verspielte und grandios gespielte Variation auf die Themen, die Kore-eda schon seit Jahrzehnten umtreiben.»
Wohlverstanden, diese Szenen sind alles andere als unangebracht oder gar plump. Im Gegenteil: Die Riesenradsequenz ist eine Demonstration von Kore-edas grössten Stärken als Autor und Regisseur. Doch sie wirkt eben auch wie eine Drehbuchfunktion, wie der obligate kathartische Moment, der das Ende des Abenteuers einläutet – selbst wenn die Schlussfolgerungen, zu denen die Figuren dabei gelangen, sich nicht ganz aus den vorangegangenen Ereignissen erschliessen. So ganz wollen Komödie und Drama hier letzten Endes doch nicht zueinanderfinden.
Im grösseren Zusammenhang führt dies aber lediglich zur Feststellung, dass «Broker» nicht Kore-eda in Höchstform ist. Doch selbst in unvollkommener Form ist Kore-eda besser als manch andere*r Regisseur*in. «Broker» mag kein «Shoplifters» sein – doch er ist eine unterhaltsame, anrührende, oft überraschend verspielte und grandios gespielte Variation auf die Themen, die Kore-eda schon seit Jahrzehnten umtreiben.
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Kinostart Deutschschweiz: 22.12.2022
Filmfakten: «Broker» («브로커», «Beurokeo») / Regie: Hirokazu Kore-eda / Mit: Song Kang-ho, Gang Dong-won, Lee Ji-eun, Bae Doona, Lee Joo-young, Im Seung-soo, Park Ji-yong / Südkorea / 129 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © 2022 Ascot Elite Entertainment Group. All Rights Reserved.
Hirokazu Kore-eda vertieft in «Broker» seine Faszination für gefundene Familien mit einem berührenden, oft überraschend witzigen Roadmovie-Drama über Menschenhandel und Mord.
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