Tänzer, eine Party, Vinyl und eine Sangria – Das sind die Hauptingredienzen des neuen Films von Gaspar Noé, dem Enfant Terrible des Französischen Kinos. In «Climax» verdichtet der Skandalregisseur die Leidenschaft fürs Tanzen, den menschlichen Hang zum Exzess und das von Noé heissgeliebte Thema des erweiterten Bewusstseins zu einer viszeralen und wuchtigen Bilderflut, die sich als einer der schockierendsten Höllentrips entpuppt, die jemals auf Leinwand zu sehen waren.
Zurück ins Jahr 1996: Der Electro ist nicht nur in den Clubs angelangt, sondern erfreut sich auch grosser Beliebtheit bei professionellen Tanztrupps. Die Gruppe um Choreografin Selva (Sofia Boutella) probt zum letzten Mal in einem isolierten Gebäude, bevor es am nächsten Tag auf die grosse US-Tournee gehen soll. Vorher wird noch gefeiert. DJ Daddy (Kiddy Smile) lässt die Schallplatten kreisen, die Jungs reden über die Mädchen und die Mädchen über die Jungs. Doch als die ausgelassene Stimmung kippt, wird klar, dass in der Sangria des Party-Buffets nicht nur Früchte schwimmen, sondern Unmengen von Acid, das die Tänzer in eine psychedelische Reise zu den tiefsten Abgründen ihrer Existenz geleitet, in welcher ihnen jegliche Rationalität entzogen wird und die verheerende Folgen mit sich zieht.
Gaspar Noé, Punk des Cinéma français
Wer Gaspar Noé hört, dem kommen die Begriffe von Geburt und Tod, Sex, Transzendenz und Drogen, aber auch Gewalt und Rache in den Sinn, meistens in knallig farbiges und dennoch ungemein düsteres Neonlicht getaucht. Kaum ein anderer Regisseur setzt sich mit den Themen der Vergänglichkeit so provokativ auseinander und verpackt diese in so stilistisch distinktive Filme, die kein Pardon mit dem Zuschauer kennen. So ist «Enter The Void» eine wirre, knallig leuchtende Erzählung aus der Sicht eines verstorbenen Drogendealers, «Irreversible» zeigt eine äusserst grafische und hochumstrittene Vergewaltigungsszene und «Love» wurde auch als Kino-Porno in 3D bezeichnet.
Eines ist klar: Noé will nichts Normales machen, nichts, was bereits tausend Mal durchgekaut wurde. Hauptsache laut und knallend, so dass der Film auch schön lange nachhallt, beim einzelnen Zuschauer, wie auch in der Presse. «Climax», der in Cannes Premiere feierte und gleich auch noch den «Art Cinema Award» gewann, bildet hier keine Ausnahme.
Besser als jeder Kaffee: Die morgendliche Vision der Credits von «Enter The Void».
(Aber bitte nur auf grossem Bildschirm. In einer minim sanfteren Version sind diese ebenfalls in «Climax» zu sehen.)
Tanztalente, Electrotracks und Ballroom
Mit dem Ziel, die besten Tänzer Frankreichs für seinen Cast zu gewinnen, ging der Regisseur auf die Suche nach Talenten in der Pariser Ballroom-Szene, wo er fündig wurde. Die Ballroom-spezifischen Tanzstile wie Voguing sowie aggressivere Stile wie das Waacking oder Krump finden so alle in expressivster Form in «Climax» Platz, da Noé keine vorgeprobten Choreografien abfilmen wollte (und für Proben auch gar keine Zeit hatte), sondern mit seiner agilen Kamera spontan entstandene Bewegungen als Übersetzung innerer Gemütsregungen in langen Shots einfing.
Die in der Hauptrolle der Selva zu sehende algerisch-französische Schauspielerin Sofia Boutella verfügt nicht nur über ein reiches Portfolio diverser Filmrollen («Atomic Blonde», «The Mummy», «Hotel Artemis») sondern kann auch wahnsinnig gut tanzen. So steppte sie sich als Eva in «StreetDance 2» in die Herzen der Zuschauer, verblüffte mit ihrer agilen Performance in Nike-Werbespots und stellte mit ihrem kraftvollen Tanz Madonna während derer eigenen Tournee in den Schatten.
Als Soundtrack wählte Noé ausschliesslich Tracks, die bereits vor 1996 veröffentlicht wurden und welche die Trance der taumelnden Figuren nicht nur unterstreicht, sondern gleich nochmals anheizt, und die Probebühne zu einem düsteren Partykeller umgestaltet.
Der vollständige Soundtrack:
Die knallig-farbige Ballroom-Szene ist im Underground des Nachtlebens der weltlichen Metropolen angesiedelt und entstand in den 70ern Jahren in Harlem aus der LGBTQ-Szene. Weder Noe noch «Climax» haben allerdings besonders viel mit LGBTQ zu tun. So soll Noé bei den Dreharbeiten von «Irreversible» zwar in einem Schwulenklub vor Kamera masturbiert haben, um die Besucher des Clubs von sich zu überzeugen und nicht als homophob zu gelten. Ansonsten thematisiert Noé aber zumeist heterosexuelle Beziehungen. Ob er mit Mitgliedern der Ballroom-Szene in seinem Cast gegen weitere solche Anschuldigungen kämpfen will?
Free ride to psychosis
«Climax» ist Noés Film mit der bis anhin kürzesten Produktionszeit: Innerhalb von zwei Wochen des diesjährigen Februars wurde das gesamte audiovisuelle Material des Kammerspiels aufgenommen. Choreographiert ist nur die erste Tanzeinlage des Filmes, der Rest entstand spontan in langen Sequenzen, die durch ihre Unmittelbarkeit eine Ein-Raum-eine-Nacht-Ideologie beschwören, welche beispielsweise an Sebastian Schippers «Victoria» erinnert. Auch waren kaum Dialoge geschrieben, denn Noé liebt die Improvisation und das Gefühl, unvorbereitet am Set zu erscheinen.
So ergeben sich angeheiterte Dialoge, die mit statischer Kamera in langen Sequenzen aufgefangen wurden und zwar ab und an etwas gar pubertär wirken (Hauptthemen der Akteure sind Rim-Jobs, Orgien und andere Schweinereien), aber das Unterbewusste der Figuren durch Einfluss des ungewollt eingenommenen Halluzinogens darlegen und so ungemein zur Authentizität des Filmes beitragen. Dieser thematisiert «stripped-down» den temporären Kontrollverlust unter den triebverdeckenden Masken der Alltagsmenschen und die Auswirkungen der aufgrund dieser Verluste entstehenden Realitätsverschiebungen innerhalb einer Gruppe.
Die Figuren sind nicht mehr sich selbst, sondern ein Höllenabbild ihrer selbst. Noé kratzt alles Gute aus ihren Gesichtern und verwandelt sie in Dämonen, Schauergestalten schlimmster Albträume. Und dieser wird so intensiv erzählt, dass von Kinobesuchern ein nüchterner Magen und psychische Stabilität vor dem Betreten des Saals verlangt werden sollte.
«Climax» fährt ein, wie die Autorin nicht nur selbst, sondern auch vom näheren Umfeld erfuhr.
(Zur Beruhigung: Es sind jetzt alle wieder fit und munter.)
Von Ordnung zu Chaos in 97 Minuten
Doch als Kritik an oder Warnung vor LSD kann Climax nicht gelesen werden. Der Regisseur ist bekannt für seine Vorliebe horizonterweiternder Mittelchen, welche immer eine zentrale Rolle in seinen Filmen spielen. Ein Blatt nimmt er bei diesem in unserer Gesellschaft tabubehafteten Thema nicht und findet, dass er seine besten und kreativsten Zeiten nie nüchtern erlebt hat.
Viel mehr interessiert sich Noé für das plötzliche Kippen einer Situation vom unbeschwerten Geordneten in hysterisches Chaos. Dem LSD kommt hier die Rolle des Auslösers und gleichzeitig des Katalysators der Aktion zu. Der Begriff Klimax bezeichnet ein rhetorisches Stilmittel, mit dem eine stetige Steigerung der Wortbedeutung aneinandergereihter Ausdrücke bezeichnet wird (so zum Beispiel: «Er kam, sah und siegte» oder in diesem Fall: «Sie tanzten, tranken und verbrannten im Fegefeuer ihrer eigenen Psyche»). Und genau so wird «Klimax» erzählt. Abgesehen von einem Flash forward zu Beginn, der die ansonsten klare Chronologie künstlerisch durchschneidet und einigen VHS-Interviewausschnitte der Tänzer, der sie und das Publikum auf den folgenden Höllentanz hinweist, geht es steil bergauf: Entgegen der gängigen Dramaturgie, die nach einem Exposé den Höhepunkt der Geschichte anfangs zweiter Filmhälfte ansiedelt, um dann nachher das filmische Geschehen sachte und zuschauerfreundlich aufzulösen, schnürt Noé während des 97-minütigen Films die spannungstragenden Fäden immer enger – hier bis hin zu unerträglichem psychischen cauchemar, das von Kinosessellümmlern einiges abverlangt.
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Regie: Gaspar Noé
Kinostart: 13. Dezember
Mit: Sofia Boutella, Kiddy Smile, Romain Guillermic, Souheila Yacoub, Giselle Palmer, Thea Carla Scott uvm.
Bilder- und Trailerquelle: Xenix
Ein Kammerspiel, das dem Zuschauer das unvermittelte Entgleisen einer Situation in einen Albtraum auf schauerlichste Art und Weise darlegt.
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