Regisseur Jan Komasa und Drehbuchautor Mateusz Pacewicz versuchen in der schonungslosen und universellen Geschichte von «Corpus Christi», vieles über das menschliche Bedürfnis, das Richtige zu tun, herauszufinden. Trotz Angst, sozialem Stigma und konservativen Werten sucht dieser perfekt erzählte Film nach Antworten auf die wichtigen Fragen nach der Spiritualität im Leben eines Menschen und die Chance, ein Leben zu ändern.
Basierend auf einer wahren Begebenheit, wird die Geschichte des 20-jährigen Daniel (sehr charismatisch: Bartosz Bielenia) erzählt, der während seiner Jahre in einer Jugendstrafanstalt in Warschau zum Glauben findet und Priester werden möchte. Dieser Wunsch bleibt ihm aufgrund seiner Vorgeschichte allerdings verwehrt. Trotzdem findet er sich durch eine Verkettung von Umständen als Geistlicher in einer kleinen Gemeinde im Süden Polens wieder. Daniels tragische Heldenreise berührt nicht nur wegen seiner Spiritualität, sondern auch wegen der Fragen nach Moral, Verurteilung, Scheinheiligkeit und wahrer Vergebung. Zu Recht wurde dieses packende Drama als bester internationaler Film bei den diesjährigen Oscars nominiert. Dass ihm diese verdiente Trophäe verwehrt blieb, mag nicht nur der gefeierten und ebenso grossartigen Sozialsatire «Parasite» geschuldet sein; es widerspiegelt auch, dass die Academy noch nicht bereit zu sein scheint für noch mehr kritisches, anteilnehmendes Kino, das die soziale Wirklichkeit ungeschönt darstellt.
Die erste Sequenz in diesem Film, lässt den Zuschauenden den Atem anhalten, wenn ein Jugendlicher in einer Jugendstrafanstalt sexuell von seinen Mitinhaftierten malträtiert wird, sobald der Aufseher die Werkstatt verlässt. Diese mit der Handkamera von Piotr Sobociński Jr. gedrehte erste Szene lässt Daniel in einer Nahaufnahme den Eindruck vermitteln, dass es nicht sein kann, dass dieser junge Mann mit diesen ausdruckstarken Augen, so etwas zulässt und noch dazu aufpasst, um die Gewalttätigen zu warnen, wenn der Aufseher zurückkommt. Und doch lässt er es zu, denn wer überleben will, passt sich an und schweigt.
Daniel sitzt seit seinem 15. Lebensjahr wegen eines gewaltsamen Verbrechens im Gefängnis, wo auch Priester tätig sind und hat inmitten der täglichen Routine zum Glauben gefunden. Er wird nach seiner Entlassung zur Resozialisierung in den ländlichen Süden Polens geschickt, um in einem Sägewerk auf unbestimmte Zeit zu arbeiten. «Jeder von uns ist ein Priester Christi», sagt Pater Tomasz (Łukasz Simlat) zum Abschied. «Du kannst trotzdem Gutes tun». Nach einer rauschenden Partynacht in Warschau erfährt er schon im Bus, wie es ist, als sozialer Abschaum zu gelten, alleine schon, wenn man in diese Richtung fährt.
«Der Film beginnt mit Gewalt, der Film endet mit Gewalt. Dazwischen findet Daniels Verwandlung statt, was auf so vielen Ebenen passiert und uns darüber nachdenken lässt, ob Gutes auch von scheinbar schlechten Menschen kommen kann, und umgekehrt.»
Daniel betritt das Sägewerk, kehrt um und findet sich in einer kleinen Dorfkirche wieder, wo er sich mehr aus Scham oder Spass der zynischen Marta (Eliza Rycembel) gegenüber als Priester ausgibt und daraufhin als Gast beim Ortspfarrer (Zdzisław Wardejn) einquartiert wird. Zuerst klaut er etwas Geld, dann versucht er zu verschwinden und bleibt doch, weil er gar nicht weiss, wohin er überhaupt gehen könnte. Und der Dorfgeistliche verabschiedet sich krankheitsbedingt am nächsten Tag, und überlässt Daniel seine Gemeinde.
Man sieht Daniel zuerst dabei zu, wie er hilflos die ersten Beichten abnimmt, indem er sich parallel dazu im Online-Beichtratgeber am Handy orientiert und Messen hält, die er nachts vorbereitet und aussergewöhnlich improvisiert. Krankensalbung, Taufen und das Vertrauen der Dorfjugend in seine unkonventionelle, menschliche und mitfühlende Art geben ihm einen Platz im Leben, welcher von der Tatsache überschattet wird, dass Daniel zwar lügt, aber sein Mitgefühl und seine Anteilnahme echt sind.
Hier ist man versucht, an eine Neuauflage von Neil Jordans Komödie «We’re No Angels» zu denken, wo zwei Ausbrecher, als Priester verkleidet, eine Dorfgemeinde aufmischen und beide letztendlich zu ihrer Bestimmung finden. Die Gemeinde brauchte einen Priester und die beiden Flüchtenden brauchten die Gemeinde. Das ist aber auch die einzige Parallele zu diesem Film von 1989.
Das zeigt sich, als Daniel sieht, dass seine Gemeinde gespalten ist – aufgrund eines tragischen Unfalls, bei dem sechs junge Menschen und der schuldige Autofahrer starben. Er beginnt, den Unfall mit den Trauernden aufzuarbeiten. Je tiefer er geht, desto mehr stellt sich die Frage nach der Schuld und des Schuldigen, der diesen Unfall verursacht haben soll. Die Witwe des Fahrers (Barbara Kurzaj) wird geächtet, und ihr Mann darf nicht im Dorf beerdigt werden.
Der Film beginnt mit Gewalt, der Film endet mit Gewalt. Dazwischen findet Daniels Verwandlung statt, was auf so vielen Ebenen passiert und uns darüber nachdenken lässt, ob Gutes auch von scheinbar schlechten Menschen kommen kann, und umgekehrt.
Jan Komasa nimmt sich damit in seinem dritten Langspielfilm erneut der Geschichte eines jungen Mannes an, der am Rande der Gesellschaft steht.
Was auch sehr berührt sind die Szenen, in denen Daniel einerseits als Erwachsener handelt, indem er die Trauernden unterstützt, und andererseits versucht, seine verlorenen Teenager-Jahre nachzuholen – etwa wenn er ein altes Motorrad im Pfarrhof repariert und dabei Techno hört; oder wenn er gemeinsam mit Marta ratlos im Garten steht, als wären sie gerade beim Äpfelklauen erwischt worden. Die beiden interagieren mehr mit Blicken als mit Worten, und die Kamera lässt uns die Figuren (teilweise auch in Blue-Tone-Ästhetik) auch sehr nahekommen.
Jan Komasa nimmt sich damit in seinem dritten Langspielfilm erneut der Geschichte eines jungen Mannes an, der am Rande der Gesellschaft steht. Anders als in seinem Debüt «Suicide Room» (2011), wo sich der alleingelassene 17-jährige Dominik aus einer gut situierten Familie zunehmend der Aussenwelt verschliesst und sich der Community von suizidwilligen Heranwachsenden im Darknet anschliesst – und seine Chancen auf «Heilung» nicht mehr wahrnehmen kann –, handelt es sich beim 20-jährigen Daniel um eine Figur, die von jeher auf sich alleine gestellt ist und wo die Möglichkeit, Hilfe und Perspektiven zu haben, aufgrund des sozialen Stigmas gar nicht vorhanden ist.
Dominiks Geschichte entwickelt sich zu einer unaufhaltsamen Abwärtsspirale, die mit seinem Tod endet und die zurückgelassenen Menschen eine Lehre daraus ziehen lässt, während Daniels Erzählung mit Gewalt beginnt und auch für seine Zukunft nichts Gutes erahnen lässt.
Die Geschichte Daniels als «spiritueller Leader» im ländlichen Polen, wo die Menschen weitgehend konservativ, katholisch und obrigkeitsgläubig sind, funktioniert auch deshalb, weil die Authentizität der Protagonist*innen unter die Haut geht und uns viel über das Menschsein lehrt.
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Kinostart Deutschschweiz: 3.9.2020
Filmfakten: «Corpus Christi» («Boże Ciało») / Regie: Jan Komasa / Mit: Bartosz Bielenia, Eliza Rycembel, Aleskandra Konieczna, Tomasz Ziętek, Łukasz Simlat, Leszek Lichota / Polen, Frankreich / 115 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Xenix Filmdistribution GmbH
Das oscarnominierte Drama «Corpus Christi» ist ein kritischer, anteilnehmender Film, der die soziale Wirklichkeit ungeschönt darstellt.
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