Deutsche Genrefilme gibt es nicht viele, erst nicht komplexe wie «Cortex». Moritz Bleibtreu hat sich daran gewagt, dies zu ändern. Bisher vor allem als Schauspieler bekannt, übernimmt er dieses Mal nicht nur die Hauptrolle, sondern hat zugleich das Drehbuch geschrieben sowie den Film inszeniert und produziert.
«Cortex» handelt vom Familienvater Hagen (Moritz Bleibtreu), der unter Schlafstörungen und seltsamen Träumen leidet. Immer wieder träumt er davon, im Körper eines jungen Kriminellen namens Niko (Jannis Niewöhner) zu stecken. Als ausgerechnet dieser Niko in der realen Welt eine Affäre mit Hagens Frau eingeht, ist sich Hagen der Grenzen seiner Realität bereits nicht mehr sicher. Was er noch nicht weiss, ist, dass Niko ihn ebenfalls in seinen Träumen sieht.
Eine ausführliche Filmbesprechung gibts hier.
Mit uns hat Moritz Bleibtreu am 16. Zurich Film Festival nicht nur über die Idee hinter seinem speziellen Drehbuch gesprochen, sondern auch sehr ehrlich über Herausforderungen, die ihm während der Arbeit an «Cortex» begegnet sind.
Nicoletta Steiger: Was bedeuten für Sie persönlich Träume, und glauben Sie, dass sie einen tieferen Sinn haben?
Moritz Bleibtreu: Gegenfrage: Hattest du nicht auch schon mal einen Traum, bei dem du dir nach dem Aufwachen gedacht hast: «Das war jetzt aber wirklich komisch?» Was mich fasziniert, ist, dass Träume dieses spirituelle Element in unserem Leben sind, das wir alle kennen und alle akzeptieren. Bei der Religion streiten sich die Menschen, ob es einen Gott gibt oder nicht. Aber ich glaube, es ist unbestreitbar, dass es Parallelen zwischen unserer echten Realität und der Traumwelt gibt. Es gibt Überschneidungen, die anders nicht zu erklären sind. Und trotzdem schenken wir Träumen nicht wirklich viel Beachtung.
«Bei der Religion streiten sich die Menschen, ob es einen Gott gibt oder nicht. Aber ich glaube, es ist unbestreitbar, dass es Parallelen zwischen unserer echten Realität und der Traumwelt gibt.»
Wie ist die Idee für den Film entstanden?
Ich habe mich gefragt, wieso eigentlich noch niemand einen Film über einen psychologischen Body-Switch gemacht hat. Das Filmgenre selbst existiert seit den Vierzigerjahren, aber immer nur im Rahmen von Komödien, oder als Actionfilm wie in «Face/Off» (1997). Aber es hat sich noch niemand wirklich damit auseinandergesetzt, was wäre, wenn ich plötzlich du wäre und du plötzlich ich.
Das Thema ist für mich auch persönlich naheliegend, weil ich mich als Kind immer in andere Leute hineingeträumt habe. Ich war ein irrer Tagträumer, wollte lieber der coole Typ aus der Parallelklasse oder Bruce Lee sein als mich selbst. Es ist aber auch ein alltägliches Thema, es gibt niemanden, der noch gar nie in seinem Leben Realitätsflucht betrieben hat. Aus diesen Gründen habe ich mir überlegt, wie ein solcher Body-Switch zustande kommen könnte und bin dadurch auf die Idee mit den Träumen gekommen.
Sie haben «Cortex» produziert, das Drehbuch geschrieben, Regie geführt und die Hauptrolle gespielt. Wie haben Sie diese Herausforderung gemeistert?
Ich wollte eigentlich im Film gar nicht mitspielen. Meine Nichterfahrung als Regisseur ist schuld daran, dass ich am Ende doch die Hauptrolle übernommen habe. Nachdem Warner Bros. sich nämlich bereit erklärte hatte, sich am Film zu beteiligen, ging alles plötzlich sehr schnell. Plötzlich hiess es im Oktober: Drehstart ist im Januar! Das ist der Fluch bei Subventionen: Wenn die Gelder da sind, muss man auch drehen, da gibt’s kein Aufschieben mehr. Also habe ich das Casting durchgeführt, aber es hat einfach bei keinem Schauspieler wirklich geklickt. Schliesslich entschied ich mich, die Rolle des Hagen lieber selber zu spielen, anstatt jemanden zu nehmen, bei dem ich nicht ganz sicher war. So konnte ich mir höchstens vorwerfen, mich selbst fehlbesetzt zu haben. Ausserdem konnten wir den Bleibtreu ganz billig bekommen. (lacht)
«Schliesslich entschied ich mich, die Rolle des Hagen lieber selber zu spielen, anstatt jemanden zu nehmen, bei dem ich nicht ganz sicher war. So konnte ich mir höchstens vorwerfen, mich selbst fehlbesetzt zu haben.»
«Cortex» hat eine spezielle Erzählstruktur. Können Sie etwas zum Schreibprozess sagen?
Die Initialzündung für die Narrative war sicherlich «Memento» (2000), weswegen Christopher Nolan im Film auch mit «Inception» (2010) und dem Kreisel zitiert wird. Nolan hat mit seinen Filmen die Erzählstrukturen im Kino auf den Kopf gestellt. Ich mochte es bereits in der Literatur, wenn die Geschichte einen konstant auf falsche Fährten führt, Rätsel stellt. So etwas wollte ich unbedingt selbst machen. Es ist allerdings sehr anstrengend, so zu schreiben, weil man nicht emotional schreibt. Es fühlt sich eher an, wie ein Sudoku zu lösen, es ist Fleissarbeit. Aber ich wollte unbedingt einen Film machen, den ich selbst einmal gerne auf einer deutschen Leinwand sehen würde.
Die Musik im Film kreiert eine sehr spezielle Atmosphäre. Sie steht teilweise fast im Gegensatz zu den Bildern. Wie haben Sie diese zusammen mit dem Komponisten entwickelt?
Da habe ich unheimlich viel lernen müssen. Ich habe gemerkt, dass ein Film für einen Regisseur wie ein Flugzeug ist. Wenn das einmal abgeflogen ist, kannst du nicht eben mal rasch wieder runter und eine Dose Thunfisch holen, weil dir die grade fehlt, das geht nicht. Du musst beim Start wirklich alles an Bord haben, das werde ich beim nächsten Mal sicherlich besser berücksichtigen.
Bei der Musik hat Erwin Kiennast, der Vater von meinem Kameramann Thomas Kiennast, am Ende den Tag gerettet. Er hatte einen ganz anderen Zugang als ich, kam mit Ideen zu dieser, wie soll man das sagen, einer Art erdiger Musik. Er hat zum Beispiel Stimmen verwendet, Chöre, die vorher nicht da waren. Vorher war die Musik sehr künstlich, dem Inhalt untergeordnet. Erwin hat diesen merkwürdigen Anachronismus geschaffen, der irgendwie unheimlich gut funktioniert. Merkwürdigen Töne von Gnuhörnern, tibetischen Klangschalen und was weiss der Herr noch alles. Nur ganz wenig Synthie. Der Soundtrack riecht für mich nach Erde, Grab und Würmern.
«Da wurde mir klar, dass man in dem Moment, wo man sich die Figur ausdenkt, ja nur aus sich selber schöpfen kann.»
Was hat Sie an deiner Rolle am meisten fasziniert?
Gar nichts, ich wollte sie ja nicht spielen. (lacht) Aber es war lustig, in dem Moment, als mein Partner mir gesagt hat, «Du machst das jetzt, wir müssen diese Rolle besetzen!», war ich erst gar nicht einverstanden. Ich meinte: «Aber ich habe mir diesen Charakter ganz anderes vorgestellt, ich sehe nicht so aus, das ist ein ganz anderes Temperament von Mensch.» Und seine Antwort war: «Aber der Charakter hat doch ganz viele Parallelen zu dir, da, da und da!» Da wurde mir klar, dass man in dem Moment, wo man sich die Figur ausdenkt, ja nur aus sich selber schöpfen kann.
Dass es am Ende aber so gut geklappt hat, ist auch meinem Kamermann Thomas Kiennast zu verdanken. Ich brauchte jemanden, der für jene Szenen, in denen ich schauspielere, die Regiearbeit übernimmt. Wir vereinbarten, dass Thomas inszeniert, wenn ich spiele, und dass ich dann auch nicht auf dem Monitor nachkontrolliere. Ich habe ihm gesagt: «Wenn du sagst, wir haben es, dann haben wirs.» Und so haben wir es dann auch gemacht.
Sie haben gesagt, dass die Umsetzung plötzlich Tatsache war. Mussten Sie lange warten, bis die Zusage kam?
Das ist grundsätzlich in Deutschland nicht so einfach. Gerade im Kinogeschäft kannst du in Deutschland keinen Kinofilm ohne Beteiligung von mindestens zwei Förderern und einem Fernsehsender machen. Es ist unheimlich schwer, wenn du nicht einen starken Partner im Rücken hast. Deswegen wars für uns auch erst ab dem Moment klar, dass es klappen wird, als Warner Bros. eingestiegen ist.
«Der schlechteste Ratschlag ist eine beliebte Floskel bei Regisseuren: ‹Mach keine Kompromisse.› Das ist meiner Meinung nach das Dümmste, was man sagen kann, weil Filmemachen ohne Kompromisse nicht geht.»
Was war der beste Ratschlag, den Sie fürs Regieführen jemals bekommen haben?
Als ich mit Steven Spielberg damals für «Munich» (2005) zusammengearbeitet habe, fragte ich ihn, ob er mir mit einem Satz sagen könne, was seine Regiearbeit ausmacht. Seine Antwort war, ich sage es mal auf Englisch: «Well Moritz, I don’t do anything. What I do is I hire the best people in the world and tell them how great they are.» («Weisst du, Moritz, ich mache gar nichts. Ich stelle lediglich die besten Leute der Welt ein und sage Ihnen, wie grossartig sie sind», A. d. R.) Der schlechteste Ratschlag ist eine beliebte Floskel bei Regisseuren: «Mach keine Kompromisse.» Das ist meiner Meinung nach das Dümmste, was man sagen kann, weil Filmemachen ohne Kompromisse nicht geht.
Möchten Sie in Zukunft weiter Regie führen oder lieber wieder schauspielern?
Ich werde immer Schauspieler sein, das ist klar, das ist meine grosse Leidenschaft. Aber wenn man mich lässt, wenn «Cortex» nicht dazu führt, dass man mir nie wieder Gelder anvertraut, dann würde ich gerne weitere Filme schreiben und inszenieren.
«Als Schauspieler kann man immer wieder für bestimmte Zeit jemand anderes sein, sich wie die Axt im Wald verhalten und das dann den Leuten als künstlerische Metamorphose verkaufen. Im besten Fall kriegt man sogar noch einen Preis dafür!»
Glauben Sie, nach diesem Film werden Sie immer noch das Bedürfnis haben, jemand anderes zu sein?
Das Geile ist ja, dass ich dafür bezahlt werde, jemand anderes zu sein. Als Schauspieler kann man immer wieder für bestimmte Zeit jemand anderes sein, sich wie die Axt im Wald verhalten und das dann den Leuten als künstlerische Metamorphose verkaufen. Im besten Fall kriegt man sogar noch einen Preis dafür! Wenn ich meinen Beruf nicht hätte, würde ich mich wahrscheinlich mehr in andere Leute hineinträumen, aber dadurch, dass ich ständig ein anderer sein darf, bin ich auch gerne Moritz.
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«Cortex» läuft ab dem 22. Oktober 2020 in den Deutschschweizer Kinos.
Titelbild: ©Thomas Niedermueller/Getty Images for Zurich Film Festival / Szenenebilder: © 2020 Warner Bros. Ent. All rights reserved
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