«Cruella» widmet sich dem turbulenten Leben der ikonischen Bösewichtin von Disneys «101 Dalmatiner». Im London der Siebzigerjahre mischt Emma Stone als Cruella die Modebranche auf und sucht nach Antworten zu ihrer mysteriösen Vergangenheit. Wer hofft, mehr über die originale Figur zu erfahren, oder einen sinnvollen Plot und kompetentes filmisches Handwerk sucht, ist bei diesem Film allerdings an der falschen Adresse.
Seit dem Jahr 1961, als Disney «101 Dalmatiner» in die Kinos brachte, bescheren grosse Fragen der Welt schlaflose Nächte: Warum nur, um Himmels Willen, wollte die ikonische Bösewichtin Cruella einst die 101 drolligen Hundewelpen zu einem schicken Pelzmantel verarbeiten? Welche Erlebnisse könnten eine irre keckernde Hexe zu solch abgründigem Gräuel verleiten? Wie soll ein solcher Kinderfilm bloss zu verstehen sein, ohne eine komplexe psychologische Hintergrundbeleuchtung und detaillierte Aufarbeitung der Kindheitstraumata seiner Protagonistin?
«Seit dem Jahr 1961, als Disney ‹101 Dalmatiner› in die Kinos brachte, bescheren grosse Fragen der Welt schlaflose Nächte: Warum nur, um Himmels Willen, wollte die ikonische Bösewichtin Cruella einst die 101 drolligen Hundewelpen zu einem schicken Pelzmantel verarbeiten?»
Platz für «Cruella», den neuesten Disney-Streich, der ganz im Sinn von «Maleficent» (2014) und «Solo» (2018) mutig die These vertritt, dass das geneigte Publikum nicht hell genug ist, um etwaige narrative Lücken und Mehrdeutigkeiten selber zu füllen – und auch nicht akzeptieren will, dass archetypische Schurk*innen manchmal einfach aus Spass an der Sache Missetaten verüben und nicht unbedingt einer Freud’schen Analyse bedürfen. Vielmehr bemüht sich «Cruella» so verzweifelt darum, aus der unterhaltsam-durchgedrehten Delinquentin eine (plump feministisch angehauchte) Heldin zu machen, dass nicht nur jede Freude an der ikonischen Figur flöten geht, sondern auch jegliche narrative Kohärenz zugunsten von ebenso müden wie unsinnigen Referenzen auf das Original aufgegeben wird.
Zugegeben: Tiefe hat die Figur Cruella im Original tatsächlich nicht. Sie betritt sämtliche Szenen hämisch gackernd, augenrollend oder bösartige Befehle bellend, und ihre Charakterzüge können mit «megalomanisch», «getrieben» und «rauchend» grosszügig zusammengefasst werden. Doch diese groben Pinselstriche reichen, um aus ihr eine unterhaltsame Figur zu machen, der man gerne bei der Schurkerei zusieht – und bei der man sich vielleicht sogar hin und wieder fragt, ob man ihr den begehrten Pelzmantel nicht sogar gönnen würde. Verleiht es ihr nun tatsächlich mehr Tiefe, wenn man sich – wie «Cruella» vorschlägt – den Charakter als Waisenkind vorstellt, das in der Punk-Szene im London der Siebzigerjahre aufwächst, Ambitionen als Modedesignerin hegt und eine so tragische Hintergrundgeschichte hat, als wäre sie in einer wirren Kooperation von Rosamunde Pilcher und George Lucas erdacht worden?
«Verleiht es ihr nun tatsächlich mehr Tiefe, wenn man sich – wie ‹Cruella› vorschlägt – den Charakter als Waisenkind vorstellt, das in der Punk-Szene im London der Siebzigerjahre aufwächst, Ambitionen als Modedesignerin hegt und eine so tragische Hintergrundgeschichte hat, als wäre sie in einer wirren Kooperation von Rosamunde Pilcher und George Lucas erdacht worden?»
Um die rhetorische Frage gleich selbst zu beantworten: Im Gegenteil. Diese Visionen einer jungen Cruella (Emma Stone) haben nicht nur herzlich wenig mit dem bekannten Charakter zu tun; sie wollen auch innerhalb des Films als eigenständigem Produkt nie so recht zusammenpassen. Märchenhafter Kinderfilm trifft auf einen Mode-Plot, der direkt aus «The Devil Wears Prada» (2006) übernommen wurde (inklusive einer Emma Thompson, die sich sehr offensichtlich um eine Meryl–Streep-Imitation bemüht), und driftet danach in seichte Heist-Szenen ab, wie sie aus «Ocean’s Eleven» (2001) und Co. bekannt sind. Keinem der Genres wird der Film bei diesem bunten Durcheinander gerecht – und seiner Figur schon gar nicht, da er sich mit Händen und Füssen dagegen wehrt, sie als «gut» oder «böse» zu kategorisieren und sich stattdessen für einen verwirrenden, sinnfreien Mittelweg entscheidet.
«‹I am woman›, verkündet Cruella irgendwann komplett grundlos, ‹hear me roar!› Tönt zwar nett und irgendwie ‹empowered›, aber was die potenzielle Hundemörderin damit genau meint, bleibt unklar.»
Entsprechend bleibt die junge Cruella ungreifbar, behauptet immer wieder, «böse» und «verrückt» zu sein, ohne je eine gröbere Missetat zu begehen – und will sich dabei immer wieder völlig zusammenhangslos als feministische Ikone positionieren. Wie schon in den Remakes von «The Lion King» (2019) und «Aladdin» (2019) bedient sich Disney der Schublade «Pop-Feminismus», ohne sich jemals wirklich mit patriarchalischen Problemen oder geschlechterbasierter Ungerechtigkeit auseinanderzusetzen. Stattdessen wird auf das Prinzip «Girlboss» mit seinen inhaltslosen Plattitüden und vermarktbaren Slogans zurückgegriffen: «I am woman», verkündet Cruella irgendwann komplett grundlos, «hear me roar!» Tönt zwar nett und irgendwie «empowered», aber was die potenzielle Hundemörderin damit genau meint, bleibt unklar.
«Tönt nett, ist aber sinnlos», trifft als Verdikt auch auf den Soundtrack zu: Da der Film in den Siebzigern spielt, sind auch die Lieder dieser Zeit entnommen. Zwar rätselhafterweise kein Punk, obwohl Setting und Ästhetik sich sehr um die Beschwörung dieser Subkultur bemühen, dafür aber jeder einzelne Popsong, der in jenem Jahrzehnt jemals im Radio lief. Und das ist nur geringfügig übertrieben: Spätestens nach dem dritten im Zweiminutentakt eingespielten Song hegt man den Verdacht, dass damit über die emotionale Leere und die Unfähigkeit, effektiv zwischen Szenen zu wechseln, hinweggetäuscht werden soll. «Cruella» verkommt damit sehr schnell zur poppigen Clipshow – aber immerhin hat man danach von den Rolling Stones bis zu Nina Simone alle Hits aus der elterlichen Plattensammlung wieder einmal gehört.
«‹Cruella› verkommt damit sehr schnell zur poppigen Clipshow – aber immerhin hat man danach von den Rolling Stones bis zu Nina Simone alle Hits aus der elterlichen Plattensammlung wieder einmal gehört.»
Am Ende dieser Disney-Remakes, -Sequels und -Prequels bleibt man immer wieder etwas ratlos mit der gleichen Frage zurück: Was genau war eigentlich das Ziel dieses Werks? Ob man diese Frage optimistisch oder zynisch beantworten möchte, bleibt jeder und jedem selber überlassen. Fakt ist: Der Disney-Moloch stampft munter voran und spuckt jedes Jahr einige wiedergekäute Werke aus, nach denen die Welt nicht verlangt hat. Geben wir also kollektiv dem Stockholm-Syndrom nach und freuen uns auf die Antworten auf so spannende Fragen wie «Wären die anthropomorphen Tierfiguren in ‹Robin Hood› nicht viel schöner in albtraumhaftem CGI?», «Wollte Käpt’n Hook als Knirps etwa einmal ein Waisenhaus für elternlose Krokodile gründen?» oder «Was ist eigentlich der heimliche Lebenstraum dieses einen knuffigen Fisches, der in ‹Arielle› einmal für drei Sekunden durchs Bild schwadert?» Denn kommen werden sie sowieso.
Über «Cruella» wird auch in Folge 27 des Maximum Cinema Filmpodcasts diskutiert.
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Kinostart Deutschschweiz: 27.5.2021 / Jetzt auf Disney+
Filmfakten: «Cruella» / Regie: Craig Gillespie / Mit: Emma Stone, Emma Thompson, Joel Fry, Paul Walter Hauser, Emily Beecham, Kirby Howell-Baptiste, Mark Strong, John McCrea, Kayvan Novak / USA / 134 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © 2021 The Walt Disney Company Switzerland. All Rights Reserved.
«Cruella» will die Hintergrundgeschichte einer ikonischen Bösewichtin erzählen. Hat mit dem originalen Film aber ebenso wenig zu tun wie mit gekonntem Filmhandwerk.
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