Beim Film «Das Mädchen vom Änziloch» von Alice Schmid stimmt wirklich sehr, sehr viel. Nicht nur ist es die archaische Kraft der Bilder, der ausgewogene Schnitt, die wunderbar mystische Musik oder das erzählerische Kalkül. Nein. Nicht nur das macht den Schweizer Film zu einem kleinen Juwel aus dem Napfgebiet. Das Highlight vom Film ist die zwölfjährige Laura Larissa Röösli, die den Zuschauer mit ihrer wahnsinnigen Energie, ihrem Herz am rechten Fleck und ihrem ansteckenden Lachen in den Bann zieht.
Wir befinden uns im Entlebuch, genauer gesagt am Napf. Alice Schmid drehte mit «Die Kinder vom Napf» bereits vorher in dieser Region. Auf dem ersten Dreh entstand die Beziehung zu Laura, eines der fünfzig Kinder, die sie bereits bei ihrem Vorfilm begleitet hatte.
Laura Larissa Röösli ist als einzige Tochter und jüngstes Kind in einer grossen Bauernfamilie mit ihren Gedanken und Ängsten allein, besonders in den Sommerferien, wenn alle Kinder der Gegend auf ihren Höfen und Feldern sind und sich nicht in der Schule treffen. Auch Laura muss helfen. Beim uralten Handwerk des Köhlerns packen alle an. Sie versorgt auch die Tiere und sieht mit an, wie ihr Vater und ihre Brüder sie schlachten. Das Kaninchen mit dem weissen, weichen Fell. Ihr Pony, dessen verletztes Bein nicht mehr heilt. Über all das wird in der Familie nicht gesprochen. So vertraut Laura sich ihrem Tagebuch an und sehnt sich nach einem Freund zum Reden. Mit einem Fernglas unterwegs, beobachtet sie ihre Umgebung mikroskopisch genau. Ihre Fantasien kreisen um das sagenumwobene Änziloch, eine steile, 200 m tiefe Felsschlucht, die von allen gemieden wird. Fasziniert geht sie immer wieder an den Rand des Abgrundes, um den Geräuschen zu lauschen, die aus der Tiefe dringen. Unten lebe eine verbannte Jungfrau, sagen die Leute. Wer hinuntergehe, werde selber zum Geist, glaubt man. Niemand will wissen, wer oder was sich wirklich im Änziloch befindet. Als ein Junge aus der Stadt zum Landdienst auf den Hof kommt, hat Laura zum ersten Mal in ihrem Leben einen Vertrauten.

Bergbauern im Film «Das Mädchen vom Änziloch» von Alice Schmid
Poetische Alp-Momente und kauziger Lokalkolorit
Das Starke am Film ist die grossartige Beobachtungsgabe der Regisseurin und des Kameramanns und das Gespür für wahrhaftige Momente. Wir erleben alles sehr nahe und sind vertraut mit Hof und Vieh. Die Kamera ist kaum spürbar und so sind die unmittelbaren Momente beim Köhlern, beim Füttern, Schlachten der Tiere oder Lauras Tagebuch oder Entdeckungstouren wahnsinnig wertvoll und poetisch. Man könnte dem Film attestieren, dass er die Geschichte um Laura zu wenig differenziert erzählt. Abgeschottet wie die verbannte Jungfrau vom Änziloch selbst wird nur ihre Sicht gezeigt. Weder auf die Beziehung zu ihrer Mutter noch zu anderen Menschen wird eingegangen. Einzig ihr neuer Freund Thom bekommt einen Platz in ihrem abgeschotteten Gedanken-Universum. Erweitert wird der facettenreiche Film durch Interview-Abschnitte mit den Bergbauern, die portraitartig eingeflochten werden. Kauziger Lokalkolorit fügt sich zu Lauras Welt.
Die Kamera ist kaum spürbar und so sind die unmittelbaren Momente beim Köhlern, beim Füttern, Schlachten der Tiere oder Lauras Tagebuch oder Entdeckungstouren wahnsinnig wertvoll und poetisch
Aber das alles, diese Reduktion auf Laura hat sehr viel Gutes und ist mutig in einem Film über 87 Minuten. Sie funktioniert. Laura ist eins mit der Natur, ihrem Fernglas und den Sagen ums Änziloch. Und so sind es wir als Zuschauer.
Der Film mag in seinem ästhetischen Portrait-Fotografie-Stil ein wenig an Einstellung in Ulrich Seidl-Filmen erinnern und in seiner kargen und langatmigen Einstellungen an «Höhenfeuer» von Fredi M. Murer – zuletzt ist es aber einfach ein wunderbarer Schweizer Film, einer der besten der letzten Jahre.
„Das Mädchen vom Änziloch“ – ein magisches Alpmärchen von Alice Schmid mit der herzerwärmenden Laura. Bravo! #sofi52 pic.twitter.com/WHp77Xmeni
— Maximum Cinema (@MaximumCinema) 20. Januar 2017
Update vom 31. März 2020: Den Film können Sie auf der folgenden Webseite kostenlos ansehen: https://filmstream.ch/das-maedchen-vom-aenziloch/ (Ab dem 1. April bieten Zentralschweizer Filmschaffende ihre Filme während 30 Tagen online und gratis zum Streaming an. Jeden Tag wird auf filmstream.ch ein neuer Film veröffentlicht.)
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Kinostart: 9. Februar / Regie: Alice Schmid / Mit: Laura Larissa Röösli und Thom Straumann
Trailer- und Filmquelle: Paterson-Entertainment AG / Impuls Pictures AG
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