Staatsfeinde im Schulzimmer: Eine Klasse in der DDR legt eine Schweigeminute ein und gerät in den Fokus der Funktionäre. «Das schweigende Klassenzimmer» zeichnet im Kleinen gekonnt den Weg in die Isolation des Kalten Krieges nach. Und erzählt, wie einfach und schwierig zugleich politische Haltung sein kann.
Wenn sich Jugendliche im Unrecht glauben, protestieren sie oft schnell, laut und etwas unüberlegt. Oder sie legen eine Schweigeminute ein. 1956 steht eine Klasse in Stalinstadt (heute Eisenhüttenstadt) kurz vor dem Abitur. Es wird nicht nur gebüffelt, sondern auch Grenzen ausgetestet, bzw. jene zwischen der DDR und der BRD überschritten. So erfahren die Schülerinnen vom Ungarnaufstand und v.a. vom gewaltsamen Einschreiten der Sowjettruppen, die auch in ihrer Heimatstadt omnipräsent sind. Aus Solidarität mit den gefallenen Ungarn legen sie eine Schweigeminute ein – und geraten in den Fokus einer Diktatur. «Das schweigende Klassenzimmer» erzählt – basierend auf wahren Gegebenheiten – davon, wie nahe jugendlicher Übermut und wahrer Mut beieinander liegen können und wie systematischer Druck politischen Widerstand wachsen lassen kann, statt ihn zu brechen.
Lars Kraume wurde mit «Der Staat gegen Fritz Bauer» (2015) bekannt, seinem Film zur juristischen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen in der BRD – und den Hürden, die dazu genommen werden mussten. «Das schweigende Klassenzimmer» kann als Gegenstück dazu gelten, denn auch hier wird die Frage aufgeworfen, wie ein Staat mit seinem Vorgänger (dem Deutschen Reich) und der Vergangenheit seiner BürgerInnen (deren Beteiligung am Nationalsozialismus und seinen Verbrechen) umgehen soll.

Parteifunktionäre versuchen die Jugendlichen gegeneinander auszuspielen…
Ausgrenzung, Einschüchterung, Bespitzelung
In immer neuen Wendungen zeichnet der Film nach, wie aus einem verbotenen Kinobesuch Widerstand gegen den Staat wird, wie Ausgrenzung, Einschüchterung, Bespitzelung in Diktaturen eingesetzt werden, um ungewollte Meinungen zu unterdrücken. Zum Glück entgeht der Film dabei der Falle des Schwarz-Weiss-Zeichnens. So handeln die Jugendlichen nicht nur aus politischer Überzeugung. Manche bringt die Gruppendynamik dazu mitzumachen, andere veranlasst ihr familiärer Hintergrund zum Handeln oder der etwas diffuse Wunsch, «die Russen nach Hause zu schicken» – und auch die Begeisterung für Fussball spielt eine Rolle. Als die ersten Parteifunktionäre in der Schule auftauchen, Untersuchungen und Verhöre folgen, muss die Klasse ihre Solidarität deshalb auch immer wieder neu aushandeln.

… ein «Rädelsführer» muss um jeden Preis gefunden werden
Auch die Beweggründe der Erwachsenen, die dem kollektiven Schweigen auf den Grund gehen wollen, von Staatsvertretern ebenso wie Eltern, sind vielfältig. Sie haben das Dritte Reich als Erwachsene erlebt und die jeweiligen Vorgeschichten prägen den Umgang mit der jugendlichen Rebellion. Manche von ihnen vertreten nur konsequent moralische, durchaus nachvollziehbare Standpunkte und verfolgen hehre Ziele. Und wirken damit an Unterdrückung mit. Mit dieser differenzierenden Darstellung unternimmt der Film dankenswerterweise den Versuch, die Wirkung von Ideologien und die Entstehung totalitärer Systeme zu erklären.
Umso erstaunlicher ist angesichts dieser Komplexität, wie eindimensional die weiblichen Figuren gehalten sind (symptomatisch: nicht auseinanderhaltbare Zwillingsschwestern). Aus der realen Klasse flohen nur vier nicht in den Westen: Es waren die Mädchen der Klasse; eine einzige Schülerin bildete die Ausnahme. Warum war das so? Dieser Frage hätte man ruhig auch etwas Raum geben können.
Kinostart Deutschschweiz: 19.4.2018 Regie: Lars Kraume. Mit: Leonard Schleicher, Tom Gramenz, Lena Klenke, Isaiah Michalski, Jonas Dassler, Burghart Klaussner, Ronald Zehrfeld
Trailer- und Bildquelle: Look Now Filmverleih
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