Die zweite Corona-Ausgabe des Fantoche stand im Zeichen fragiler Welten. Fast 20’000 Zuschauer*innen und überragende Gewinnerfilme sorgen für gute Stimmung – obwohl die grossen Langfilme fehlten.
19’900 echte und virtuelle Tickets wurden am zweiten Pandemie-Fantoche verkauft, fast 4’000 mehr als im Vorjahr. In diesem Jahr nutzten mehr Menschen die Möglichkeit, sich die Wettbewerbsprogramme digital anzuschauen, womit die Zahl der vor Ort anwesenden Besucher*innen in etwa gleich hoch wie im Vorjahr blieb. Entsprechend zerknirscht liest sich die Medienmitteilung des Festivals, das auf das Corona-Zertifikat und Testangebote setzte und sich nun fragt, ob sich das aufwendige Sicherheitskonzept (anstelle des einfacheren Contact-Tracings) überhaupt gelohnt hat. Ein Blick auf die Fallzahlen in der Schweiz sagt: Ja, es lohnt sich.
Vielleicht blieb der Ansturm am Fantoche auch einfach aus, weil dem Festival die ganz grossen Filme fehlten. «Belle» von Mamoru Hosoda («Mirai»), der in Cannes mit einer 14-minütigen Standing-Ovation bedacht wurde, fehlte am Fantoche genauso wie der ebenfalls an der Croisette aufgeführte «Where Is Anne Frank» von Ari Folman («Waltz with Bashir»), der nun am Zurich Film Festival seine Premiere im deutschsprachigen Raum feiern wird. Auch Jonas Poher Rasmussens animierter Dokumentarfilm «Flee» wird in Zürich gezeigt – am Fantoche fehlte der in Sundance und Annecy prämierte Film ebenfalls.
Die grossen Zugpferde des Fantoche in diesem Jahr waren alles andere als unbedeutende Filme. Aber dass der oscarnominierte «Wolfwalkers» von Tomm Moore und Ross Stewart bereits seit vergangenem Jahr auf Apple TV+ erhältlich ist, und auch «Josep» bereits im letzten Herbst am Zurich Film Festival gezeigt wurde, schlug dann doch etwas auf die Exklusivität der Langfilmselektion – selbst wenn mit «My Sunny Maad» von Michaela Pavlátová ein unerwartet aktuelles Werk über eine Liebesbeziehung im Afghanistan des vergangenen Jahrzehnts gezeigt wurde.
Überragende Gewinner*innen
Auch der internationale Kurzfilm-Wettbewerb liess in diesem Jahr nach zwei starken Durchgängen zu wünschen übrig: Die Dringlichkeit der Werke früherer Jahre, sie fehlte. Umso erfreulicher, dass es der Jury gelungen ist, aus dieser Auswahl die eindrücklichsten Filme herauszupicken und zu prämieren. Für ihr verspieltes Familien-Kammerspiel «The Fourth Wall» sicherte sich Mahboobeh Kalaee den Hauptpreis der Jury, während Joanna Quinn für ihren herrlich ironischen und vor Leidenschaft nur so sprühenden «Affairs of the Art» mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde.
Verdient sind auch die anderen Preise: «Just a Guy» von High-Risk-Gewinnerin Shoko Hara ist ein eindringliches Porträt ungesunder Idolisierung, das nachhallt, und auch der New-Talent-Award für Mathieu Georis geht in Ordnung: Mit «Ten, Twenty, Thirty, Forty, Fifty Miles a Day» ist dem belgischen Regisseur ein eindrückliches Debüt über Schnäbis und Schnäggli gelungen. Für Yoriko Mizushiri und ihren pastellfarbenen Fingerhäutchen-Film «Anxious Body» gibt es den wohlverdienten Best-Sound-Preis; und Marine Blins bezaubernder «Ce qui résonne dans le silence» über kindliche Einsamkeit im Angesicht des Todes erhält eine Special Mention der Jury.
Dominanz einer Schule
Den gewohnt starken Schweizer Wettbewerb dominieren Samuel Patthey und Silvain Monney, die mit ihrem bereits in Annecy mit dem Hauptpreis prämierten Altersheimdokumentarfilm «Écorce» sowohl den Hauptpreis der Jury als auch den Publikumspreis schnappen – völlig verdient. Der Fantastic-Swiss-Award des NIFFF geht an Kilian Vilim und seinen in einen wilden Dampflokomotiven-Ritt verpackten Abgesang auf die Leistungsgesellschaft «Mr. Pete & the Iron Horse»; derweil Bianca Caderas‘ bunte Büsi-Cüpli-Fabel «Jeroboam» mit High-Swiss-Risk-Preis prämiert wird.
Der Alterssschnitt im Schweizer Wettbewerb ist auffallend tief: Für alle vier Filmschaffenden ist es der erste Film nach ihrem Abschluss an der Hochschule Luzern, die damit den Schweizer Wettbewerb so stark dominiert wie kaum je zuvor. Auch der New-Swiss-Talent-Preis geht in die Innerschweiz an Anna Lena Spring und Lara Perren, die für ihren Abschlussfilm «Sauna» und ihren Ausflug in eine ebensolche ausgezeichnet werden.
Gleich zwei Preise gibt es für Simon Schnellmann und seinen berührenden Blick auf den Kampf eines Krebspatienten in «To the Last Drop», einem Film, dem der Spagat zwischen Tragik und Komik unverschämt gut gelingt. Für Schnellmann gibt es den Preis der Jugendjury sowie eine Special Mention der Jury – was diesen in der Dankesrede ziemlich «through the wind, as the Swiss say» bringt. Schnellmann ist übrigens – wer hätte das gedacht? – ebenfalls ein Absolvent der Luzerner Kunsthochschule.
Alle Gewinner*innen im Überblick:
INTERNATIONALER WETTBEWERB
- Best Film: «The Fourth Wall», Mahboobeh Kalaee (Iran)
- High Risk: «Just a Guy», Shoko Hara (Deutschland)
- New Talent: «Ten, Twenty, Thirty, Forty, Fifty Miles a Day», Mathieu Georis (Belgien)
- Best Sound: «Anxious Body», Yoriko Mizushiri (Frankreich)
- Special Mention: «Ce qui résonne dans le silence», Marine Blin (Frankreich)
- Publikumspreis: «Affairs of the Art», Joanna Quinn (Grossbritannien/Kanada)
SCHWEIZER WETTBEWERB
- Best Swiss: «Écorce», Samuel Patthey, Silvain Monney
- High Swiss Risk: «Jeroboam», Bianca Caderas
- New Swiss Talent: «Sauna», Anna Lena Spring, Lara Perren
- Fantastic Swiss: «Mr. Pete & the Iron Horse», Kilian Vilim
- Swiss Youth Award: «To the Last Drop», Simon Schnellmann
- Special Mention: «To the Last Drop», Simon Schnellmann
- Publikumspreis: «Écorce», Samuel Patthey, Silvain Monney
KINDERFILM-WETTBEWERB
- Best Kids: «Le cri», Charlotte Chouisnard, Ninon Dodemant, Baptiste Leclerc, Solène Michel, Justine Parasote, Anouk Segura-Diaz (Frankreich)
- Special Mention: «Benztown», Gottfried Mentor (Deutschland)
- Kinderpublikumspreis: «Ink», Joost van den Bosch, Erik Verkerk (Niederlande)
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Themenbezogene Interessensbindung des Autoren: Olivier Samter moderiert am Fantoche und ist mit einigen der vorgestellten Filmschaffenden befreundet. Das bedeutet aber noch nicht, dass sie auch zwangsläufig mit ihm befreundet sind.
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