Park Chan-wook, der Regisseur von «Oldboy» (2003) und «The Handmaiden» (2016), frönt in seinem neuen Film seiner Leidenschaft für schwelgerisches Melodrama. Für das Publikum ist das ein Glücksfall: «Decision to Leave» ist sinnliches Kino in Reinform.
Eine Frau liegt nackt und praktisch regungslos auf einem Bett, während auf ihr ein ebenso nackter Mann rhythmisch vor- und zurückwippt, seinen Blick geistesabwesend zur Seite gerichtet: «Decision to Leave» ist ein fast zweieinhalbstündiges Mysterydrama über zwei Menschen und die selbstzerstörerische Anziehungskraft, die sie aufeinander ausüben – doch die erste und einzige Sexszene, die im Film zu sehen ist, ist sein mit Abstand unsinnlichster Moment.
Doch weil der Regisseur und Drehbuchautor hinter diesem unstimmigen Kontrast Park Chan-wook heisst, handelt es sich dabei nicht etwa um einen stilistischen Fehlgriff, sondern um einen kühnen und darum umso raffinierteren Schachzug: In bester Alfred–Hitchcock– und Wong–Kar–wai-Manier erinnert der südkoreanische Rachethriller- und Melodrama-Meister daran, dass im Kino nicht der Geschlechtsverkehr, sondern grenzüberschreitende Blicke und verstohlene Berührungen den Höhepunkt der Erotik darstellen.
«‹Decision to Leave› ist ein fast zweieinhalbstündiges Mysterydrama über zwei Menschen und die selbstzerstörerische Anziehungskraft, die sie aufeinander ausüben – doch die erste und einzige Sexszene, die im Film zu sehen ist, ist sein mit Abstand unsinnlichster Moment.»
Entsprechend bildet das ungelenke Bettgespann auch nicht das tragisch-romantische Zentrum des Films: Die Frau ist Jung-an (Lee Jung-hyun), sie lebt in der fiktiven Durchschnittsstadt Ipo und arbeitet im hiesigen Atomkraftwerk. Der Mann auf ihr ist ihr Ehemann Hae-jun (Park Hae-il), der unter der Woche in der etwas weiter entfernt liegenden Metropole Busan als Mordkommissar arbeitet und nur einmal die Woche bei Jung-an vorbeischaut.
Und sein neuester Fall hat es in sich: Ein mächtiger Einwanderungsinspektor a. D. wird am Fusse eines Bergs tot aufgefunden; alles deutet auf einen tragischen Kletterunfall hin. Aber dann ist da noch dessen Ehefrau, die signifikant jüngere chinesische Immigrantin Seo-rae (Tang Wei), die alles andere als verstört, geschweige denn überrascht, wirkt. Von Anfang an ist Hae-jun, der von seinem Partner (Go Kyung-pyo) immer wieder dazu gedrängt wird, sich lieber aussichtsreicheren Fällen zu widmen, fasziniert von der undurchschaubaren Sinokoreanerin, die seine Fragen mal in kryptisch hochgestochenem Koreanisch, mal via Siri-Übersetzung auf Mandarin beantwortet – und ihn so nur noch mehr über ihre wahren Motivationen nachgrübeln lässt.
Aus dieser Konstellation entspinnt sich ein herrlich gefühlvolles, grandios realisiertes Melodrama um Verlangen und Perversion, irgendwo zwischen der fiebrigen Obsession von Hitchcocks «Vertigo» (1958), der stillen Sehnsucht von Wongs «In the Mood for Love» (2000) und Parks eigenen verschrobenen Vorlieben: Sein umzimperlicher, gerne auch slapstickartiger Umgang mit Gewalt und der unentrinnbaren Zerbrechlichkeit des menschlichen Körpers, den er in «Oldboy» (2003) zur Perfektion zelebrierte, kommt hier ebenso zum Tragen wie sein vor allem in «Thirst» (2009), «Stoker» (2013) und «The Handmaiden» (2016) ausgelebter Hang zum barocken Gefühlsexzess.
«Aus dieser Konstellation entspinnt sich ein herrlich gefühlvolles, grandios realisiertes Melodrama um Verlangen und Perversion, irgendwo zwischen der fiebrigen Obsession von Hitchcocks ‹Vertigo›, der stillen Sehnsucht von Wongs ‹In the Mood for Love› und Parks eigenen verschrobenen Vorlieben.»
Hae-jun und Seo-rae lassen sich von ihren eigenen destruktiven Impulsen treiben, und Park folgt ihnen lustvoll dabei, wie sie sich damit in immer fatalere Konsequenzen hineinmanövrieren. Der biedere Kommissar, der sich nach Jahren der trockenen Routine plötzlich mit einer waschechten Femme fatale konfrontiert sieht, verliert vor lauter schwelgerischer Hingabe quasi den Verstand, was von Kameramann Kim Ji-yong und Parks Haus-Schnittmeister Kim Sang-bum auf wunderbar eigenwillige, nicht selten urkomische Art und Weise unterstrichen wird. Denn das Publikum begleitet Hae-jun nicht nur auf seiner bizarren emotionalen Reise vom Verfolger zum Verfolgten und wieder zurück; es wird immer wieder unsanft mitten in seine aufgewühlte Psyche geworfen: Desorientierende Jump-Cuts, rasante Kamerafahrten, abrupte Detailaufnahmen, Zooms, heimliche Beschattungen aus der Distanz, die sich plötzlich in fantasierte Begegnungen verwandeln – «Decision to Leave» zieht bei der Darstellung von Hae-juns geistiger Verfassung sämtliche Register.
Anders als bei Hitchcock jedoch erhält hier auch die begehrte – und begehrende – Frau eine Subjektivität. Seo-raes Perspektive ist, passend zu ihrem kalkulierenderen Charakter, weniger hektisch, dafür umso detailorientierter: eine flüchtige Handbewegung, ein gespieltes Weinen, das in ein stilles Lächeln übergeht, ein Blick der Entschlossenheit im Angesicht des Untergangs.
Park, Kim Ji-yong und Kim Sang-bum leisten auch hier Grosses, erhalten aber tatkräftige Unterstützung von der herausragenden Tang Wei, die manchen aus Ang Lees «Lust, Caution» (2007) oder Michael Manns unterbewertetem «Blackhat» (2015) bekannt sein dürfte: Obwohl sie während des Films eine sichtbare Entwicklung durchläuft, bleibt Seo-rae bis zum Schluss zumindest zum Teil ein Enigma – und Tang gelingt es mit ihrer konsequent zweideutigen Mimik und Gestik und ihrem ausdrucksstarken Wechsel zwischen Koreanisch und Mandarin, diese überzeichnete Unnahbarkeit emotional fassbar zu machen. «Decision to Leave» mag es darauf anlegen, dass man Seo-rae am Ende nicht vollends versteht; doch Tang Wei sorgt dafür, dass die Tiefe ihrer widersprüchlichen Gefühle niemals bezweifelt werden kann.
«Wer bereit ist, sich von Atmosphäre, ausufernden Emotionen und menschlichen Schrullen mitreissen zu lassen, ist hier an der richtigen Adresse.»
Dass es parallel zu diesen stürmischen Innenleben auch noch mehrere Kriminalfälle zu lösen gäbe, ist dem Film zwar nicht einerlei, aber allermindestens weniger wichtig: Parks formale Spielereien und seine bildschönen Tableaux mögen viel zur Auslotung der Figuren Hae-jun und Seo-rae beitragen, haben aber auch den Effekt, dass die Thrilleraspekte von «Decision to Leave» eher verschleiert als erhellt werden.
Doch auch das trägt letzten Endes zum tiefen Eindruck, den dieser Film hinterlässt, bei. Wie die besten Films noirs belohnt nämlich auch «Decision to Leave» jene Zuschauer*innen, die seinen voyeuristischen Figuren etwas Privatsphäre zugestehen, die sich nicht verbissen an die Erwartung klammern, jeden hintersten Winkelzug der Erzählung ausgeleuchtet bekommen zu müssen. Wer bereit ist, sich von Atmosphäre, ausufernden Emotionen und menschlichen Schrullen mitreissen zu lassen, ist hier an der richtigen Adresse.
Über «Decision to Leave» wird auch in Folge 54 des Maximum Cinema Filmpodcasts diskutiert.
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Kinostart Deutschschweiz: 19.1.2023
Filmfakten: «Decision to Leave» («헤어질 결심», «Heeojil gyeolsim») / Regie: Park Chan-wook / Mit: Park Hae-il, Tang Wei, Go Kyung-pyo, Lee Jung-hyun, Park Yong-woo, Kim Shin-young, Jung Yi-seo / Südkorea / 139 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Filmcoopi
Maximal stimmungsvoll und gefüllt mit all den kleinen Absurditäten und stilistischen Kniffen, die Park Chan-wook zu einem Meisterregisseur machen: «Decision to Leave» ist grossartig.
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