«Deutschstunde» – Ein Interview mit Tobias Moretti, Johanna Wokalek und Heide Schwochow
«Politische Gewalt knackt noch immer die Seelen der Menschen» Tobias Moretti
Was passiert, wenn die Ausübung der Passion eines Menschen diesem vom einen auf den anderen Tag aufgrund politischer Manipulationstaktiken verboten wird? So geschieht es dem Maler Max Ludwig Nansen in Siegfried Lenz Romanklassiker «Deutschstunde» von 1968, dem kurz nach Anbruch des Zweiten Weltkrieges von seinem Freund, dem Polizisten Jens Jepsen, Malverbot erteilt wird. Das deutsche Regietalent Christian Schwochow hat den Roman für die grosse Leinwand adaptiert.
Deutschland in der Nachkriegszeit: Siggi Jepsen (Tom Gronau; als Kind: Levi Eisenblätter) sitzt im Jugendgefängnis. Er soll einen Aufsatz zum Thema «Die Freuden der Pflicht» schreiben. Erst stockt die Feder, doch schon bald kann der Schreibfluss nicht mehr aufgehalten werden. Siggi erzählt seine eigene Geschichte, die er als kleiner Junge erlebt hat: Hin- und hergerissen zwischen seinem autoritären Vater Jens Ole Jepsen (Ulrich Noethen), der als Polizist die staatlichen Interessen des «Dritten Reichs» vertrat und dem Familienfreund Max Ludwig Nansen (Tobias Moretti), einem eigenwilligen Maler, der nicht nach der Pfeife des Naziregimes – und somit auch nicht nach derjenigen seines alten Freundes Jens Jepsen – tanzen will. Eine Dreiecksbeziehung entsteht, die langjährige Freundschaften zerreisst, die Unvereinbarkeit von individueller Verantwortung und Pflichterfüllung beleuchtet und die perversen Funktionsmechanismen der nationalsozialistischen Propaganda aufzeigt.
«Sie glauben, dass Malen gefährlich ist. Sie glauben, dass ich gefährlich bin.» – Max Ludwig Nansen in «Deutschstunde»
«Deutschstunde» ist ein bildgewaltiges Epos, das die politischen Kämpfe des Zweiten Weltkriegs in einer kammerspielartigen Erzählung von der staatlichen auf die zwischenmenschliche Ebene verschiebt. Nachdem von Florian Henckel von Donnersmarck letztes Jahr in «Werk ohne Autor» die deutsche Geschichte des 20. Jahrhundert anhand der Biografie des fiktiven Malers Kurt Banert (Tom Schilling), dessen Figur stark an Gerhard Richter angelehnt ist, nacherzählt hat, präsentiert Christian Schwochow eine feingliedrigere Parabel, die Moral hinterfragt und die Auswirkungen von Aufhetzung und Hass, welche die Politik streut, zermürbend und dennoch publikumsfreundlich darstellt.

Tobias Moretti spielt Max Ludwig Nansen
Das Interview
Wir haben uns im Rahmen des Zurich Film Festival, wo «Deutschstunde» Schweizer Premiere feierte, mit den SchauspielerInnen Johanna Wokalek und Tobias Moretti sowie der Drehbuchautorin (und Mutter des Regisseurs) Heide Schwochow getroffen und mit ihnen über geschickte Figurenkonstellation, umstrittene Emil-Nolde-Referenzen und die Aktualität, die in historischen Filmen mitschwingt, diskutiert.
Maximum Cinema (MXC): Der Roman «Deutschstunde» von Siegfried Lenz gehört zu der Pflichtlektüre im Deutschunterricht. Habt ihr den knapp 600-seitigen Roman gelesen, bevor ihr das Rollenangebot angenommen habt?
Johanna Wokalek (JW): Ich kannte nur den Titel, als ich für die Rolle angefragt wurde. Ich habe also zuerst das Drehbuch gelesen, dann erst den Roman.
Tobias Moretti (TM): Um Siegfried Lenz’ Roman habe ich mich in der Schule ein wenig herumgeschwindelt. Ich fand seinen Umfang unerträglich. Ich kannte [Christian] Schwochow schon in seiner Stringenz und habe mich erst gewundert, dass er diese monumentale Geschichte verfilmen will. Er erzählt sie jedoch so dicht, dass mir klar geworden ist, wie grossartig, auch wie zeitlos die Geschichte ist.
MXC: Tobias, du spielst den Maler Max Ludwig Nansen, seine Ehefrau wird von dir gemimt, Johanna. Was hat euch besonders an euren Rollen gereizt?
«Was mir am Drehbuch besonders gefallen hat, ist, dass die Rolle des Malers immer in Verbindung mit den anderen Figuren und erst in der Dreiecksbeziehung zum Polizisten Jepsen und dessen Sohn Siggi sowie weiterer Figuren vollständig wird.» – Tobias Moretti
TM: Was mir am Drehbuch besonders gefallen hat, ist, dass die Rolle des Malers immer in Verbindung mit den anderen Figuren und erst in der Dreiecksbeziehung zum Polizisten Jepsen und dessen Sohn Siggi sowie weiterer Figuren vollständig wird. Dieses Zusammenspiel kann man nicht auseinander dividieren. Viele Leute denken ja, dass Nansen schon in Lenz’ Roman ein fiktionalisierter Nolde ist. Das stimmt meiner Meinung nach aber nicht. In «Deutschstunde» geht es nicht um die Biografie eines antisemitischen Malers, sondern um eine Freundschaft, die aufgrund der politischen Manipulation in deren Antipode umschwingt. Dies ist eine absurde Situation, die an einem kleinen, abgegrenzten Ort spielt.
MXC: Während Max sein Schicksal nahezu ohnmächtig entgegennimmt, wehrt sich Ditte lautstark gegen die neue Regelung. Johanna, spielst du damit nicht dem typischen Bild der hysterischen Frau zu?
JW: Ich finde Ditte überhaupt nicht hysterisch. Sie tut nur etwas, was ich gar nicht könnte: Sie stellt sich selbst vollkommen zurück. Ditte hat eigentlich Gesang studiert, findet Max als Künstler aber so stark, dass er und sein Werk erste Priorität in ihrem Leben wird. Ich habe mich gefragt: Inwieweit ist sie damit mit sich im Reinen? Es ist ein Verzicht, der fraglich ist. So ergibt auch ihre starke Reaktion, als die NS die Bilder aus Max’ Atelier konfisziert, Sinn: Denn jemand, der schon auf seine eigene Passion verzichtet, kann gar nicht verstehen, wie der, den man bewundert, es so ruhig aushalten kann, wenn ihm seine Kunst, seine Passion, gestohlen wird.
«Ditte ist nicht hysterisch. Sie tut etwas, was ich gar nicht könnte: Sie stellt sich selbst vollkommen zurück.» – Johanna Wokalek
TM: Der Ausgangspunkt dieser Rollenverteilung ist das Sittengebilde dieser Zeit. Frauen gaben oft den Beruf für das Gemeinsame auf. Die lähmende Situation, in der sich Max nach dem Malverbot wiederfindet, lässt ihn in die Apathie gleiten. Er ist nicht feige, er reagiert nüchterner. Ditte reagiert einfach radikaler.
JW: Ditte kann diese Situation einfach nicht mehr ertragen. Als würde sie für sich entscheiden: «Wenn das jetzt das Leben sein soll, sterb ich». Es ist ihr Protest.
«Politische Gewalt knackt noch immer die Seelen der Menschen.» – Tobias Moretti
MXC: «Deutschstunde» spielt während des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit. Würdet ihr den Film dennoch als aktuell beschreiben?
TM: Die Aktualität, die in «Deutschstunde» herrscht, muss man nicht in konkrete Beispiele übersetzen, denn sie ist allgegenwärtig. Politische Gewalt knackt noch immer die Seelen der Menschen. Diese Machtgefüge sind Umstände, die aus der Präposition der Menschen entspringen. Als Zuschauer fragt man sich: Ist das heute noch möglich? Der Film macht deutlich, wie ein totalitäres System jede Sozialität des Menschen aushöhlt und verschworene Gemeinschaften sprengt.
JW: Eine Freundin mit Familie in der Türkei war nach dem Film total aufgewühlt. Denn genau diese Spaltung in der Familie, diese Unmöglichkeit zu kommunizieren erlebt sie gerade. Die Spaltung einer Gesellschaft durch die Brexitfrage ist auch ein aktuelles Beispiel, dass sich hier einreihen lässt. Ditte bekämpft im Film diese Unfähigkeit miteinander zu sprechen, in dem sie bei Max’ Geburtstag ein Lied von früher anstimmt, welches bald die gesamte Festgesellschaft singt. Dies ist ein kluger Schritt: Diese gemeinsame, emotionale Erinnerung von früher ist ihr Versuch eine zerbrochene Freundschaft wieder zu kitten. Aber letztlich erzählt der Film vor allem die Geschichte des Jungen, der von allen anderen nur benutzt und auf diese Weise missbraucht wird.
«Als Zuschauer fragt man sich: Ist das heute noch möglich? Der Film macht deutlich, wie ein totalitäres System jede Sozialität des Menschen aushöhlt und verschworene Gemeinschaften sprengt.» – Tobias Moretti
MXC: Wie bist du beim Drehbuchschreiben vorgegangen und wie sehr bleibst du der Buchvorlage von Sigfried Lenz treu?
Heide Schwochow (HS): Die Romanvorlage von Lenz hat über 500 Seiten, es ist ein sehr opulentes Werk mit unendlich vielen Figuren. Dieses Buch zu verfilmen – Das geht eigentlich gar nicht. Wir mussten viele Grundentscheidung treffen, die den Drehbuchprozess auf eine Dauer von dreieinhalb Jahre ansteigen liess. Unsere Leitfragen waren: Was ist die Kerngeschichte? Welche Figuren werden weggelassen? Welche werden verändert? Im Mittelpunkt steht der Junge Siggi, der zwischen den Forderungen seines Vaters und denen des Malers sowie allen anderen Erwachsenen zerrieben wird. Somit ist Siggi in einer Situation, in der er immer nur alles falsch machen kann. Alle Figuren sind unter einem grossen Druck in den Strukturen, in denen sie sich bewegen, was zu der grossen Fallhöhe führt. Dies ist ein archaischer Konflikt, dem etwas ganz Universelles innewohnt.
«Dies ist ein archaischer Konflikt, dem etwas ganz Universelles innewohnt.» – Heide Schwochow
MXC: Inwiefern habt ihr die Charaktere für die Filmadaption verändert?
HS: Bei der Figurengestaltung haben wir den Polizisten ambivalenter gezeichnet, während der Maler im Film mehr falsch macht als im Roman und nicht mehr eine reine «Positivfigur» ist. So bringt Max Nansen Siggi das Malen nur im Film bei, um den Jungen so für seinen Nutzen einzusetzen. Vor allem haben wir die Geschichte verdichtet und den Zwiespalt, in dem sich Siggi befindet, verstärkt. Dadurch ist der Film eher eine Parabel geworden.
MXC: Die Erzählperspektive ist geschickt gewählt: Aus der Sicht des Jungen Siggi wird ein unvoreingenommenes, beinahe naives Auge auf die Geschehnisse geworfen.
HS: Die Figur des Kindes Siggi ist kein kleiner niedlicher Junge. Er hat etwas Indifferentes in sich, aber auch etwas Morbides und etwas Fragiles, behält dennoch eine gewisse Distanz zu allen. Am liebsten würde er alle vereinen, kommt aber gegen die Umstände nicht an. Dieses Weggucken und Ausnutzen der Erwachsenen, dem er ausgesetzt ist, der Vater, der ihn zum Spitzel macht – Für mich ist «Deutschstunde» eine Geschichte über emotionalen Missbrauch eines Kindes , auch wenn Christian das nicht so sieht. Siggi nimmt die ganze Last der Erinnerung auf sich und schreibt darüber. Vielleicht wird ja ein Dichter aus ihm? Siegfried Lenz hat sicher ein wenig an sich selbst gedacht.
MXC: Warum sollte der Romanklassiker von Siegfried Lenz genau jetzt (nochmals) verfilmt werden? Was war eure Motivation dahinter?
HS: In «Deutschstunde» wabert ein Gift in den Familien, etwas Böses breitet sich aus – dies habe ich als sehr aktuell empfunden. Zudem schmecke ich als Norddeutsche das Salz unter der Haut sowie die Mentalität des Schweigens, die in dieser Gegend vorherrscht. Jeder weiss alles, aber keiner sagt was, niemand will richtig über den Krieg sprechen. Was ich zudem am Buch mochte, ist, dass nicht mit den gängigen Symbolen des Nationalsozialismus gearbeitet wird, die oftmals in den Filmen über diese Zeit gezeigt werden: In «Deutschstunde» wird über die Natur erzählt. Dazu ist die norddeutsche Kulisse sehr bildgewaltig und eignet sich hervorragend für das Kino.
«In ‹Deutschstunde› wabert ein Gift in den Familien, etwas Böses breitet sich aus – dies habe ich als sehr aktuell empfunden.» – Heide Schwochow
MXC: Wie ist es, als Mutter-Sohn-Gespann zusammen einen Film von der Wiege an zu kreieren?
HS: Unsere Zusammenarbeit funktioniert dank unserer Kritikfähigkeit und der Lust am gemeinsame Geschichtenspinnen und Nachdenken. Ganz wichtig sind zwei Aspekte: Respekt und Vertrauen. Unsere enge Zusammenarbeit bedeutet Luxus für die ganze Produktionsgeschichte: Die Vision des Filmes entsteht schon im Drehbuchprozess, alles läuft sehr organisch ab – Das Ideal eines kreativen Teams. Ich schätze auch sehr, dass nach dem Schreiben nicht Schluss ist für mich: Ich werde auch bei der Inszenierung und beim Schnittprozess zu Rate gezogen und bin so ein Teil vom ganzen Grossen.
«Der Film entsteht schon im Drehbuchprozess, alles läuft sehr organisch ab – das Ideal eines kreativen Teams.» – Heide Schwochow
MXC: Die Figur Max Nansen wurde nach Erscheinung des Romans von vielen als fiktionalisierter Emil Nolde gelesen. Ihr habt euch dafür entschieden, jegliche Referenz zu Nolde aus dem Film zu lassen.
HS: Siegfried Lenz hat sich von Emil Nolde inspirieren lassen und es gibt in «Deutschstunde» eindeutige Zuordnung zum Künstler. Aber so geschehen kreative Prozesse: Ein Schriftsteller hört eine Geschichte und baut daraus einen universellen Konflikt. Uns hat es nicht interessiert, das Bild, dass die Gesellschaft von Nolde hat, mit unserem Film zu verändern. Für uns war Max Nansen eine fiktionale Romanfigur, aus der wir eine weitere fiktionale Filmfigur geschaffen haben. Zudem würde der Konflikt von «Deutschstunde» gar nicht mehr funktionieren, wenn dies ein Nolde-Porträt wäre: Siggi würde dann ja zwischen zwei gleichgesinnten Nazis stehen. Aus diesen Gründen haben wir bewusst keine Gemälde von Nolde im Film gezeigt.
«Uns hat es nicht interessiert, das Bild, das die Gesellschaft von Nolde hat, mit unserem Film zu verändern.» – Heide Schwochow
MXC: Vor kurzem hat Angela Merkel Gemälde des nationalsozialistischen Künstlers aus ihrem Büro verbannt. Inwiefern muss die Kunst autonomsein, wie strikt sollte die Trennung von Werk und Künstler als Person sein?
HS: Diese aktuelle Diskussion zeigt, wir um unsere Geschichte ringen und wie viele Konflikte hier vorhanden sind. Angela Merkel hat die Nolde-Bilder in ihrem Büro abgehängt. Das ist ein Stück Verdrängung, denn sie hat dazu kein Statement abgegeben und entzieht sich somit einer Debatte. Was ich schade finde, ist, dass der Roman jetzt deskreditiert ist und kaum mehr als eigenständige Lektüre angesehen wird. Das tut auch weh – denn daraus entsteht der Vorwurf, man sollte aus dieser Thematik keinen Film machen. Das finde ich falsch, denn unsere Geschichte darf nicht totgeschwiegen werden.
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«Deutschstunde» läuft jetzt im Kino.
Filmfakten: «Deutschstunde» / Regie: Christian Schwochow / Mit: Tobias Moretti, Ulrich Noethen, Johanna Wokalek, Levi Eisenblätter, Sonja Richter, Maria Dragus, Tom Gronau / Deutschland / 125 Minuten
Bild und Trailerquelle: Filmcoopi
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