Diagonale Graz: Weibliches Kino, Clash of Media und politische Aufschreie
Wenn sich die beiden Begriffe Österreich und Film kreuzen, kommen mir zuallererst Michael Haneke, Josef Hader und der subtile Horror-Schocker «Ich Seh, Ich Seh» des Regiegespanns Franz/Fiala in den Sinn. Dazwischen: Viele Löcher. Potenzial für eine Horizonterweiterung ist auf jeden Fall vorhanden, also habe ich mein Köfferchen gepackt, genügend Augentropfen für gereizte Leinwandaugen eingesteckt und bin nach Graz geflogen, um mir einen Rundumeinblick über Österreichs Film anno 2019 zu verschaffen.
TAG 1: Von den Höhen des Himmels in die Tiefen von Youtube
Graz, wo der Aldi Hofer heisst, die Bevölkerung beim Spaziergang durch die Stadt ganzjährig Angst vor Dachlawinen haben muss und der Senf zu den Würsten so scharf ist, dass es einem gleich den Okzipitallappen (zuständig für die Verarbeitung der visuellen Stimuli) samt Kleinhirn verbutzt. Hier findet jedes Frühjahr die Diagonale statt, an der man sich am österreichischen Film sattsehen kann. Während sechs Tagen werden hier 180 Filme in 143 Vorstellungen verteilt auf die vier städtischen Kinos gezeigt. Ich reise am Nachmittag des zweiten Festivaltages per geflügelten Transalpenexpress in die gemütliche Steiermark. Über den atemberaubenden Gebirgsketten des Vorarlbergs kreuzt unser Weg den der Sonne, die hinter uns verschwindet, nachdem sie das Bergpanorama orange und violett einfärbt. Alle Augen sind auf das himmlische Spektakel gerichtet, nie war die Kamerafunktion der Handys nutzvoller.
Der Anflug: Himmel über dem Vorarlberg.
Auf dem Österreicher Boden angekommen pilgere ich für meine erste Diagonale-Vorstellung in das Schubertkino. «Rihaction» läuft in der Sparte Innovatives Kino und ist ein Found Footage-Experiment, in dem Regisseur Neil Young – nicht zu verwechseln mit seinem Musiker-Namensvetter – alle sogenannten «Reaction Videos» zu der Lip-Sync-Battle-Performance des Spider-Man-Darstellers Tom Holland, die er auf Youtube finden konnte, kommentarlos aneinanderreiht. Im ursprünglichen Video, das kurz nach seinem Eintritt ins Netz zum Internetphänomen wurde, battelt der britische Schauspieler seinen Co-Star Zendaya Coleman in Grund und Boden – Hollands Performance im Drag-Kostüm sowie die Reaktionen der Youtuber sind schlichtweg priceless. Mit «Rihaction» bringt Young das Internetmedium Youtube in einem Zusammenschnitt verpackt wieder auf die Grossleinwand und spielt so mit den Rezeptionskonventionen der beiden Medien Kinofilm und Internetvideo.
Die Auswirkung der 37 aufeinanderfolgenden Reaction Videos auf die Zuschauer sind faszinierend. Irgendwo tief in unseren Genen ist einfach festgeschrieben, dass wir gerne andere Menschen beobachten, und besonders befriedigend stellt sich das Beobachten von positiv übertrumpfter Erwartung heraus. Ich bekomme nicht genug von Hollands Performance und kann schon gar nicht mehr einschlafen, ohne es mir noch mindestens einmal in Querlage anzusehen.
Das Video, auf das die Youtuber reagieren, auf welche wiederum das «Rihaction»-Publikum reagiert. Irgendwer reagiert in irgendeiner Medienform dann bestimmt auch auf die Reaktion der Reaktion. Voll meta.
TAG 2: Die Dreiteilung der Lola
Graz ist unglaublich knuffig, genau wie auch das Festival. In der Altstadt reihen sich pastellfarbene Häuser aneinander, die von prächtigen Bauwerken abgelöst werden. An Fotogenität ist Graz kaum zu überbieten – vor allem, wenn an den Hauswänden die Diagonale-Flaggen, die mich unweigerlich an Zahnpasta meiner Kindheit erinnern, gehisst sind. Die Schrittgeschwindigkeit der Menschen beträgt hier wohl knappe 60% derjenigen in Zürich und ich muss immer wieder aufpassen, dass ich niemandem hinten auflaufe.
Graz in seiner vollen Pracht.
Für den zweiten Tag habe ich mir einen ambitionierten Plan gefasst: Vier Projektionen stehen auf dem Programm. Nach Abholung des Festivalpasses wird mir am Ticketschalter aber schnell bewusst, dass das Durchziehen meines Planes gar nicht so einfach ist: Da das Festival verhältnismässig kurz dauert (die meisten Filmfestivals erstrecken sich über eine Zeitspanne von beinahe doppelt so vielen Tagen wie die Diagonale), werden die meisten Filme nur zwei Mal gezeigt, einige gar ein einziges Mal. Dementsprechend gross ist der Ansturm auf die jeweiligen Vorführungen. Oftmals ist das Ticket-Kontingent dadurch für Akkreditierte schon frühzeitig erschöpft. Neben den Filmen gibt es aber auch ganztägige Diskussionen zu bestimmten Themen und unzählige Rahmenveranstaltungen, die alle interessant klingen.
Am liebsten würde ich mich dreiteilen: Lola eins schaut sich alle Filme an, Lola zwei wohnt allen Rahmenveranstaltungen bei und Lola drei sitzt abwechselnd schreibend im Café oder kuriert den überreizten Kopf mit vielen Nickerchen aus. Daneben wird – wie sich später herausstellen sollte – noch eine Lola-eins-Assistentin benötigt, die Lola eins vorläuft und dafür verantwortlich ist, die reservierten Tickets frühzeitig abzuholen, so dass Lola eins nach dem Abspann eines Filmes gemütlich zur nächsten Projektion schlendern kann, ohne sich Sorgen darüber zu machen, dass ihre Reservationen wieder verfallen oder die Vorführung bereits restlos ausverkauft sind.
Ich lasse mich vom Grazer Lebensgefühl inspirieren und konzentriere mich auf zwei Vorstellungen: Ein liebevoll kuratiertes Kurzfilmprogramm der Sparte «Über-Bilder: Projizierte Weiblichkeit(en)» mit dem klangvollen Namen «Es hat mich sehr gefreut». Es werden acht Kurzfilme von österreichischen Regisseurinnen gezeigt, die teils bereits vor 40 Jahren gedreht worden sind. Diese bieten ein Mischung aus experimentellen feministischen Filmen an, die Erotik mit frechem Humor, Hippiekultur und rebellischen weiblichen Blickpunkten, die auch heute nichts an Aktualität verloren haben, anreichern. Zudem wird ein Kurzdokumentarfilmprogramm angepeilt.
Liebes Schubertkino, es hat mich sehr gefreut!
Am Abend schaue ich mir einen Kurzdokumentarfilmblock an. Alle Kurzfilmblöcke sind thematisch geordnet. Bei demjenigen, den ich mir ausgesucht habe, dreht sich vom ästhetischen Musikvideo zum Klarinettenduetportrait alles um Musik. Besonders angetan hat es mir der knapp einstündige Dokumentarfilm «Under The Underground», in der Angela Christlieb das Leben in den unterirdischen Wiener Kellergewölben der Musiker Chris und Ali Janka dreht. Diese bringen jeden Gegenstand zum Erklingen und tüfteln unentwegt an neuen Musikinstrumenten. Bei der anschliessenden Diskussion fällt mir auf, dass der Dialog an der Diagonale besonders gefördert wird. Alle anwesenden Filmemacher dürfen ausgiebig über ihr Werk sprechen und auch wenn das Publikum bei Fragen genauso scheu wie in der Schweiz ist, findet ein reger Austausch zwischen Gästen, Publikum und auch den einzelnen vertretenen Filmemachern untereinander im Plenum statt.
TAG 3: Mehr Innovation, mehr Bergkraxelei, mehr Diskussion
Tag 3 beginnt mit einem Kaffee in der rechten Hand und einem Kinoticket in der linken: Ich schaue mir ein Kurzfilmprogramm der Sparte Innovatives Kino an. In den einzelnen Filmen werden verschiedene Medienformen untersucht, vom Kodakfilm über den digital erzeugte Bilder bis hin zum gesellschaftsphilosophischen Filmessay über die beängstigende Zukunft des chinesischen Filmmarktes. Mein mind explodiert zweimal, einmal wegen der beraubenden Ästhetik einzelner Filme, ein zweites Mal wegen des unglaublich spannenden vermittelten Gedankenguts über die Zukunft der Medien und deren Auswirkungen auf uns Menschen.
Kaffee und Ticket im KIZ RoyalKino.
Nach zwei Experimental-/und Kurzfilmtagen habe ich mich in den Innovativen Film verliebt und fühle ich mich selbst wie ein Experiment.
Ich als Experiment.
Den ganzen Tag lang finden Diskussionsrunden zum Thema VR-Kino statt. Lola zwei wäre hierfür den ganzen Tag auf den Kartonboxen gesessen und hätte emsig Notizen gemacht, die aus den drei Lolas zusammenkomponierte Version schafft es lediglich, in den VR-Räumlichkeiten umherzustolpern. Dort treffe ich auf Michele, die in einem Spielfilm, bei dem ich Regieassi war, die Hauptrolle gemimt hat. Wir plaudern über unsere Festivalerlebnisse und ich finde in ihr eine Komplizin der permanenten Filmüberforderten. Da ich schon vor Ort bin, will ich mir einen VR-Film anschauen, obwohl ich von der Technologie bis anhin nicht allzu begeistert war. So treffe ich auf Gero Egger, der seinen knapp fünfminütigen 360 Grad-Film «Remain At Home» präsentiert. Der Kurzfilm ist der erste Teil einer ganzen Serie. Durch die über meinen Kopf gestülpte VR-Brille sitze ich plötzlich in einer Wohnung.
Bomben fallen, ein nahöstliches Elternpaar packt überstürzt ihr Hab und Gut zusammen, ein Kind schreit. Als ich an mir herunterblicke, merke ich, dass die Schreie von mir kommen: Als Zuschauer bin ich das Kind, denn ich erblicke durch die VR-Brille die Hände eines Kleinkindes, das verzweifelt nach seinen Eltern fassen will, anstelle meiner eigenen. Die Szenerie ist bedrückend, das Erlebnis fährt ein. Wieder in der realen Welt stellt mir Gero die Hauptdarstellerin Aliaa Fayoumi vor. Vor drei Jahren ist sie mit ihrer Familie aus Damaskus geflohen. Mir fehlen die Worte, ich fühle mich nicht gewachsen, mit ihr über ihre Erlebnisse zu reden und finde es plump, sie über etwaige weitere Motivation im oftmals schillernd-oberflächlichen Filmbusiness zu arbeiten, auszufragen. Die direkte Konfrontation mit der Flüchtlingskrise ist eminent, nicht nur im VR-Zelt, sondern an der ganzen Diagonale.
Mehr Informationen samt Behind the scenes-Video zum Projekt hier:
https://www.gopictures.at/goinsidevr/home/remain-at-home/
Die 360 Grad-Brille drückt ganz schön auf die Hamsterbäckchen.
Die Nachmittagsvorstellung des Studenten-Episodenfilm «DON WHO ?» ist bereits ausverkauft, dennoch schlendere optimistisch Richtung Annenhof, dem Grazer Pendant des Zürcher Arena-Kinokomplex. Die Atmosphäre vor dem Kino ist wie erwartet. Zahlreiche Filmstudenten stehen rauchend vor dem Eingang, ich spotte farbenfrohe Brocki-Shirts, ausgelatschte Wildlederstiefel, schwarze Sonnenbrillen und einen Typen, dessen steil aufgegelte Frisur es mit derjenigen von Lynchs «Eraserhead» oder gar mit Marge Simpson aufnehmen könnte. Ich bekomme die ziemlich hoffnungslose Wartenummer 67 und so wie ich es nicht an die Filmschule geschafft habe, bekomme ich auch keinen Platz mehr im Studentenfilm. Ich mach mir aber nichts gross draus und nutze dafür das wunderbare Wetter, um den berühmten Grazer Schlossberg zu erklimmen.
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Video: Nach fünf Minuten Kletterei wird der sportliche Besucher mit einem Panorama erster Klasse belohnt.
Graz von oben.
Ebenfalls findet am gleichen Abend eine Diskussion mit dem wohlklingenden Titel «Kulturkampf auf der Leinwand oder wie frei ist die Kunst?» statt. Adorno lässt grüssen, denke ich, und verfolge gespannt die Debatte, die sich der Autor und Psychoanalytiker Sama Maani mit den beiden Regisseuren Markus Schleinzer («Angelo») und Sudabeh Mortezai («Joy») führt, zu der später dann auch die Meinung der eigentlichen Moderatorin und Kuratorin Djamila Grandits nicht ganz affektlos einfliesst. Im Zentrum steht die Frage der kulturellen Aneignung: Dürfen Regisseure Geschichten von ethnischen Minderheiten erzählen, denen sie selbst nicht angehören? Wie soll das Fremde im Film dargestellt werden? Was darf die Kunst, wie steht es um ihre Autonomie? Welche kulturelle Verantwortung tragen Regisseure und Künstler im Allgemeinen, welche tragen die Rezipienten?
Sama Maani, Markus Schleinzer, Sudabeh Mortezai und Djamila Grandits (v.l.n.r.) stehen vor grossen Fragen.
Wer mehr dazu wissen will, liest am besten die Essaysammlung «Wie frei ist die Kunst?» von Hanno Rauterberg, welche erst letztes Jahr erschienen ist und auf knapp 100 Seiten hochaktuelle Inputs auf verschiedensten Ebenen zu dem Thema der Autonomie der Kunst versammelt.
«Joy» handelt von Prostitution und Menschenhandel nigerianischer Frauen der heutigen Zeit in Wien.
«Angelo» erzählt in nüchternem Ton die wahre Geschichte des vermutlich nigerianischen Angelo Soliman, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts von einer Wiener Comtesse gekauft wurde.
Am Abend wird im KIZ dann «NEVRLAND» gezeigt, der am Vortag den Jurydrehbuchpreis gewonnen hat. Auch hier zeigt sich, wie wertvoll eine Assistentin der Lola eins gewesen wäre: Obwohl ich vierzig Minuten vor Vorstellungsbeginn im Kino bin, ist dieses schon rappelvoll. Ich fühle mich wie eine Sardelle in der Dose oder wie Charlie Chaplin in der Zahnräder-Maschinerie aus «Modern Times», denn sobald sich jemand an mir vorbeizwängt drehe ich mich lustig mit. Die Vorstellung ist übervoll, der Fall hoffnungslos – ich schlendere also wieder zurück, um parodistische Selfies mit den Gemälden in meiner Bleibe zu schiessen und die Kappe Schlaf nachzuholen, die eigentlich auf Lola drei gegangen wäre.
Wenn man die Wartenummer 04 zieht und erst später erfährt, dass man somit die 54. Person auf der Warteliste ist und nicht etwa die Vierte.
TAG 4: Eine Künstlergruppe such nach der Begriffsdefinition von «innovativ», ein Staat nach dem Sinn der eigenen Politik
Am Morgen des dritten Tages suche ich den Kunstverein auf, in dessen Behausung eine Diskussion zum Thema «Innovativer Film» stattfindet. Deren Titel «What is to be done?» spielt auf Jean-Luc Godards gleichnamiges Manifest über Politik im Film aus dem Jahr 1970 an. Claudia Slanar, Sylvia Schedelbeck, Lydia Nsiah, Johann Lurf und Daniel Fitzpatrick diskutieren über den Begriff des innovativen Films, seiner Referenz zur politischen Situation und die Frage der Subventionierung von Filmen, die nicht auf ein grosses Massenpublikum angelegt sind. Danach gibt es einen «mixed metaphore brunch», der in seiner Komposition auf die Struktur eines Found Footage-Filmes verweisen soll – bei so viel künstlerischem Intellekt geht mein Herz auf.
Künstler und Kuratoren diskutieren über den Begriff „Innovatives Kino“.
Am Nachmittag reise ich zu «To The Night». So heisst der Spielfilm von Peter Brunner, in dem der exzessive Künstler Norman (Caleb Landry Jones) versucht, sich mittels direkter Konfrontation von den Folgen seines Kindheitstraumas zu befreien. Danach geht es ab in den Visionierungsraum, um mir den versäumten Eröffnungsfilm «Der Boden unter den Füssen» anzusehen. Während Journalisten neben mir ganze Filme im Fast Forward-Modus reinziehen, lasse ich mich von Marie Kreutzers Spielfilm berieseln, der stark mit der Grenze zwischen eigener Wahrnehmung und Realität spielt.
Hinter der unscheinbaren Fassade des Annenhofs verbirgt sich ein ganzer Kinokomplex.
Zum ersten Mal wird an der Diagonale eine Serie gezeigt: Das aus sechs Episoden bestehende Werk «M – eine Stadt sucht einen Mörder». Der gefeierte Regisseur David Schalko betont, dass die Neuverfilmung nicht als Remake des Klassikers von Fritz Lang, sondern als Interpretation aus der heutigen Zeit angedacht ist, weswegen auch eine Serie und kein Film entstanden ist.
Gedreht wurde in Rekordzeit: Durchschnittlich hat die Crew neun Minuten fertiges Filmmaterial pro Tag gedreht, an einem einzelnen Tag gar 19 – unvorstellbar für eine Kinofilmproduktion. Auch mussten für den Dreh Tonnen von Schnee und Schneeersatz an das Set verfrachtet werden, da zur Zeit der Dreharbeiten schlicht kein natürlicher Schnee lag. Die Serie ist neben einer Neuinterpretation des Klassikers eine Persiflage auf die derzeitige österreichische Politik. Themen der Öffentlichkeit in Medien und politische Fragen zur Aussenpolitik nehmen einen festen Platz ein und werden kritisiert. So ist die Figur des Innenministers (Dominik Maringer) eine klare Persiflage auf den Bundespräsidenten Sebastian Kurz und andere Politker der ÖVP, die Bevölkerung befindet sich in einem dauerhaften Schlafwandel. Das Buch nähert sich der Realität an, meint Schalko, und er ist sich bewusst, dass er sich mit seinem filmischen Statement «darauf vorbereiten muss, gehasst zu werden.»
David Schalko (links) führt mit einem Teil der Crew und der Schauspieler den Serienmarathon ein.
Als nächstes steht der als bester Innovativer Film 2018 ausgezeichnete Film «★» von Johann Lurf an. Anstatt mir aber den Zusammenschnitt des Kinohimmels anzusehen, verfalle ich frühzeitig in tiefen Schlummer und träume von meiner eigenen Milchstrasse unter dem Grazer Sternenhimmel.
Auch schön: Der Grazer Nachthimmel.
TAG 5: Preisregen für Frauen und ein Wasserrad für das Kunsthaus
Den letzten Tag starte ich dann voll ausgeschlafen und checke noch vor dem ersten Kaffee die Gewinner ab: Insgesamt wurden am Vorabend 19 Preise vergeben. Als bester Spielfilm wird «Chaos»von Sara Fattahi ausgezeichnet, der Preis für den besten Dokumentarfilm geht an Nathalie Borgers «The Remains – nach der Odysee». Den Preis für den besten innovativen Film staubt Jennifer Mattes mit «Wreckage takes a holiday» ab, die Preise in den Sparten für die Kurzfilme gehen an Raphaela Schmid («ENE MEINE») und Johannes Gierlinger («Remapping the origins»). Bei den Preisträgerinnen und -trägern sind zwei Tendenzen auszumachen: Obwohl das Filmgeschäft nach wie vor eine hauptsächlich männerbesetzte Domäne ist, geht ein Grossteil der Preise an Frauen. Zudem behandeln die ausgezeichneten Filme überwiegend die Themen Flüchtlinge, Fremdheit und Heimat und zeigen so auf, dass sich der österreichische Film stark an leider aktuellen Themen und dem aufkommenden Populismus der europäischen Politik orientiert. Die Diagonale setzt so ein starkes Statement ab, das sich fühlbar durch das ganze Festival zieht.
Danach geht’s ein letztes Mal ins Schubertkino, welches sich während meiner Tage in Graz zu meinem Lieblingskino avanciert hat. Nach dem Kurzfilm «Hurra Für Frau E.» von Günter Peter Straschek wird hier Otto Premingers Klassiker «Bonjour Tristesse» aus dem Jahr 1958 mit der jungen Jean Seberg gezeigt. Beide Filme handeln von Emanzipation der Frau in den 50er- und 60er-Jahren und bildet für mich einen teilrepräsentativen Filmabschluss der Diagonale.Bevor ich aber Richtung Flughafen düse, statte ich dem Kunsthaus einen letzten Besuch ab. Mit seiner auffällig biomorphen Architektur (Der Fachbegriff dazu lautet Blob-Architektur, was überaus Sinn ergibt) fällt es aus dem Rahmen des traditionellen Erscheinungsbilds der Stadt. «Friendly Alien» wird es liebevoll von den Bewohnern genannt (man muss sich hier die Aussprache mit Steirischem Akzent vorstellen, was die Knuffigkeit gleich verdoppelt) und ist nicht nur Presse- und Gästezentrum sowie Dreh- und Angelpunkt der Festivalbesucher. Hier ist ebenfalls eine kleine Ausstellung von Johann Lurf zu sehen, der den diesjährigen Festivaltrailer erschaffen hat.
Die zusammen mit Laura Wagner konzipierte „Earth Series“ sowie das aus dem Experimentalfilm «Cavalcade» nachkonstruierte Wasserrad im Schnelldurchlauf.
Das Wetter ist herrlich, am liebsten würde ich den ganzen Tag im Café oder einem Park sitzen und Vitamin D tanken. Doch mein Heimflug steht an, und so holt mich das Taxi pünktlich vor dem Hotel ab. Der Taxifahrer ist wesentlich gesprächiger als derjenige, der mich in das Herz der Stadt befördert hat. Auf die Frage, wohin meine Reise denn gehen soll und meiner Antwort, meine Destination sei Zürich, entfacht sich zwischen uns schnell eine Diskussion über die politischen Umstände in Europa. Mir wird einmal mehr bewusst, wie sehr wir in der Schweiz in einer nur semipermeablen und privilegierten Luftblase wohnen und wie wichtig es für Kunst- und Kulturfestivals ist, die in Europa herrschenden Umstände zu reflektieren, zu kritisieren und so ein Statement der Kulturszene zu setzen. Die Diagonale hat in meinen Augen ihre beinahe 33’000 Zuschauer nicht nur unterhalten, sondern es auch geschafft, die Dringlichkeit gesellschaftspolitischer Umstände aufzuzeigen. Zufrieden, erschöpft und nachdenklich steige ich in das Propellerflugzeug, hebe ab und betrachte ein weiteres Mal die hohen Gebirgszüge, die Graz von Zürich trennen, dieses Mal mit anderen Augen.
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