Dick Johnson ist tot. Oder? Dokumentarfilmerin Kirsten Johnson widmet ihrem demenzkranken Vater mit «Dick Johnson Is Dead» ein wunderschönes Porträt irgendwo zwischen herzzerreissendem Familiendrama und schwarzer Komödie.
Er ist ein brillanter Psychiater, der langsam sein Gedächtnis verliert; sie ist eine Filmemacherin, die ihre Karriere der Dokumentation – wie sie selber sagt, dem denkbar unprofitabelsten Genre – verschrieben hat. Gemeinsam wollen Vater Charles Richard «Dick» und Tochter Kirsten Johnson dem Tod ein Schnippchen schlagen, indem sie ihm künstlerisch zuvorkommen. Ausgerüstet mit Filmtricks, Make-up und Stuntleuten, visualisieren die beiden mögliche Szenarien, in denen Dick Johnson das Zeitliche segnen könnte: eine herabfallende Klimaanlage etwa? Eine scharfe Ecke in die Halsschlagader? Oder, ganz klassisch, ein Sturz die Treppe hinunter?
Danach geht es für Johnson Senior ins Land, wo Milch und Honig fliessen, denn Johnson Junior inszeniert auch quietschbunte Visionen davon, wie ihr Vater im Himmel aufgenommen wird: Hier wird gesungen, getanzt und gelacht. Es regnet Popcorn. Seine ungewöhnlichen Füsse, für die er sich ein Leben lang geschämt hat, sehen auf einmal ganz alltäglich aus. Und hier tummeln sich auch zwei Gestalten mit überlebensgrossen Schwarzweissfotos vorm Gesicht: Eins zeigt den jungen Dick, das andere eine junge Frau – seine Ehefrau, Kirstens Mutter, die 2007 an Alzheimer starb und zu diesem Zeitpunkt ihre eigene Familie nicht mehr erkannte.
«‹Dick Johnson Is Dead› lebt vom harten Aufeinanderprallen dieser verschiedenen Gefühlslagen. Kirsten Johnsons filmische Annäherung an den quälend langsamen Verlust ihres Vaters – einerseits körperlich, aber insbesondere geistig – existiert haargenau an der Schwelle zwischen lebensbejahender Freude und abgrundtiefer Traurigkeit, gerade weil es die Situation so verlangt.»
«Dick Johnson Is Dead» lebt vom harten Aufeinanderprallen dieser verschiedenen Gefühlslagen. Kirsten Johnsons filmische Annäherung an den quälend langsamen Verlust ihres Vaters – einerseits körperlich, aber insbesondere geistig – existiert haargenau an der Schwelle zwischen lebensbejahender Freude und abgrundtiefer Traurigkeit, gerade weil es die Situation so verlangt: Dick ist sich im Klaren darüber, dass er dereinst, wie schon seine Frau, in Kirstens Augen blicken und darin nichts ihm Bekanntes wiederfinden wird – doch er ist gleichzeitig noch mehr als luzid genug, um über seine Lage Witze reissen zu können und seiner Tochter und seinen Enkelkindern damit wertvolle Erinnerungen zu schenken.
Während Johnson in «Cameraperson» (2016) ihre professionelle Autobiografie anhand von überschüssigem Dokumentarfilmmaterial erzählte – und sich selber damit weitestgehend aus dem Rampenlicht nahm –, verwandelt sie hier eine zärtliche und offenkundig auch hochgradig kathartische Hommage an ihren Vater in eine Durchleuchtung ihrer eigenen Familiengeschichte. Sie stellt Dick Fragen, die er in absehbarer Zukunft wohl nicht mehr beantworten können wird: Wie hält er es mit der Religion? Was ging ihm durch den Kopf, als er mitansehen musste, wie der scharfe analytische Verstand seiner geliebten Ehefrau in seine Einzelteile zerfiel? Was waren die grössten Schmerzen, die er je erleiden musste? Was ist das Schlimmste an einem Herzinfarkt?
«Dick Johnson wird sterben, doch in ‹Dick Johnson Is Dead› – und damit in den Köpfen von unzähligen Zuschauer*innen – weiterleben. Da hat der Tod die Rechnung ohne das Kino gemacht.»
Johnson filmt Dick – beim Lachen, beim Weinen, beim Essen, beim gespielten Sterben, beim Beantworten ihrer Fragen –, weil sie um die Macht, die Magie und den Fluch des bewegten Bildes weiss: Erinnerungen sind gut, doch sie sind abhängiger von audiovisuellen Gedächtnisstützen, als uns lieb ist. In einem der traurigsten Momente des Films bemerkt Johnson, dass sie erst dann damit anfing, ihre Mutter zu filmen, als deren Krankheit schon weit fortgeschritten war, weshalb ihr Andenken an sie für immer vom Alzheimer geprägt sein wird. Das soll der Vollblut-Dokumentarfilmerin nicht noch einmal passieren: Dick Johnson wird sterben, doch in «Dick Johnson Is Dead» – und damit in den Köpfen von unzähligen Zuschauer*innen – weiterleben. Da hat der Tod die Rechnung ohne das Kino gemacht.
–––
Jetzt auf Netflix Schweiz
Filmfakten: «Dick Johnson Is Dead» / Regie: Kirsten Johnson / Mit: Charles Richard Johnson, Kirsten Johnson / USA / 89 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Netflix
Kirsten Johnson verarbeitet die Demenzdiagnose ihres Vaters zu einer berührenden, erfreulichen, todtraurigen Auseinandersetzung mit Sterblichkeit und familiärer Liebe.
No Comments