Wenn am 27. März zum 94. Mal die Oscars verliehen werden, fühlt die Academy auch dem Animationsfilmschaffen auf den Zahn. Wie jedes Jahr haben wir uns auch 2022 die nominierten Filme in den beiden Trickfilmkategorien «Bester Animationsfilm» und «Bester animierter Kurzfilm» genau angeschaut und festgestellt: In diesem Jahr zeigt Disney in den beiden Kategorien zwei sehr unterschiedliche Gesichter. Welcher dänische Film dem grossen Trickfilmstudio noch einen Strich durch die Rechnung machen könnte, und warum der Ukraine-Krieg auch an den Oscars nicht spurlos vorbeigehen dürfte, erfahrt ihr im Folgenden.
Bester Animationsfilm: Die Disney-Dominanz
- «Encanto»
- «Flee»
- «Luca»
- «The Mitchells vs. the Machines»
- «Raya and the Last Dragon»
2022 dominiert der Mickey-Mouse-Konzern das Rennen um den besten Animationsfilm, denn gleich drei Filme von Disney buhlen um den Oscar: das kolumbianische Musical-Abenteuer «Encanto», das in einem fiktiven Südostasien angesiedelte Roadmovie «Raya and the Last Dragon» sowie die Pixar-Produktion «Luca» über Sommererinnerungen an der ligurischen Küste.
«2022 dominiert der Mickey-Mouse-Konzern das Rennen um den besten Animationsfilm, denn gleich drei Filme von Disney buhlen um den Oscar.»
Dabei gibt es mit «Encanto» auch bereits einen klaren Favoriten: Die Geschichte über die mit besonderen Fähigkeiten ausgestattete Familie Madrigal hat von den nominierten Filmen die lauteste Fanbase, die unter anderem die Songs von Lin-Manuel Miranda («Hamilton») seit Monaten in den sozialen Medien abfeiert. Da überrascht es wenig, dass auch die Musik aus der Feder von Germaine Franco sowie der Song «Dos Oruguitas» von Miranda je für einen Oscar nominiert wurden.
Alles andere als ein Oscar für das Musical von Jared Bush und Byron Howard, die beide schon beim Oscargewinner «Zootopia» (2016) zum Regieteam gehörten, wäre da eine Überraschung. Denn einerseits kann Disney durch zurückhaltende Kampagnen für die anderen beiden Filme die Oscar-Wähler*innen stärker auf «Encanto» einschwören; und andererseits fehlen dem Studio auch die schlagkräftigen Konkurrenten. DreamWorks («Shrek», «How to Train Your Dragon») ist seit der Übernahme durch Comcast praktisch in der Versenkung verschwunden, und das ehemals grosse Blue Sky («Ice Age», «Rio») hat Disney nach dem Kauf von Muttergesellschaft Fox gleich selber eingestampft.

Netflix‘ «The Mitchells vs. the Machines» / Cr. Netflix
Nun muss sich das Studio also lediglich mit Netflix‘ «The Mitchells vs. the Machines» von Mike Rianda messen, einem kunterbunten Familientrip über eine Familie, welche die Welt gegen wild gewordene Roboter verteidigen muss. Gegen ein schwächeres Disney hätte die Produktion durchaus eine Chance gehabt – visuell ist «The Mitchells vs. the Machines» der interessanteste Film unter den Nominierten. Doch gegen die herzerwärmende Story von «Encanto» kommt auch diese Familiengeschichte wohl kaum an.
Der wahrscheinlichere Konkurrent kommt aus Dänemark und ist, wie «Encanto», ebenfalls dreifach oscarnominiert: «Flee» erzählt die Geschichte eines jungen Mannes namens Amin, der die Erinnerung an seine Flucht als Teenager aus Afghanistan neu aufrollt. Der Film geht auch in den Kategorien «Bester Internationaler Film» und «Bester Dokumentarfilm» ins Rennen. Jonas Poher Rasmussens eindrücklicher Ani-Dok nutzt die Technik der Animation, um Amins Erzählung zu anonymisieren und schafft so eine zeitlose und allgemeine Geschichte über die Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit der westlichen Immigrationspolitik.
Der Film geniesst viel Rückhalt bei einem Teil der Oscar-Wähler*innen, die offenbar den 2009 nominierten «Waltz with Bashir» (2008) und die Tatsache, dass Animationsfilme auch ernste Themen behandeln können, nicht vergessen haben, und die den Film um jeden Preis ausgezeichnet sehen wollen. Doch auch mit dieser geballten Euphorie im Rücken dürfte es hier für «Flee» wohl bei der Nomination bleiben – da sind die Chancen in den anderen beiden Kategorien grösser. Doch wer weiss, vielleicht gibt es für die dänische Produktion eine grosse Überraschung?
Bester animierter Kurzfilm: Machtwechsel
- «Affairs of the Art»
- «Bestia»
- «Boxballet»
- «Robin Robin»
- «The Windshield Wiper»
1932 wurde der Oscar für den besten animierten Kurzfilm eingeführt, und in den ersten zehn Jahren ging der Oscar nur einmal nicht an Walt Disney. Der Animationstitan und sein Studio gewannen den Preis seither insgesamt 15 Mal, fünf weitere Kurzfilm-Oscars kamen für Pixar dazu. Doch in den vergangenen Jahren bröckelte diese Vormachtstellung: 2022 wird das dritte Jahr in Folge sein, in dem das Studio leer ausgeht. Denn von vier eingereichten Kurzfilmen landete mit der kitschigen «La La Land»-Tanznummer «Us Again» (2021) nur gerade einer auf der 15 Titel langen Shortlist. Für eine Nomination reichte es dann aber nicht, und so ist Disney in dieser Kategorie zum ersten Mal seit 2009 ohne Oscarchance.
«Während Mickey Mouse schwächelt, bringt sich allerdings eine andere Maus in Stellung: Der herzige Weihnachtsfilm ‹Robin Robin› über ein von Mäusen adoptiertes Rotkehlchen.»

Netflix‘ «Robin Robin» / Cr. Netflix
Während Mickey Mouse schwächelt, bringt sich allerdings eine andere Maus in Stellung: Der herzige Weihnachtsfilm «Robin Robin» über ein von Mäusen adoptiertes Rotkehlchen – eine Kollaboration von Netflix mit dem Puppentrickstudio Aardman («Wallace and Gromit», «Shaun the Sheep») – hat gute Chancen, dem Streamingdienst in dieser Kategorie den zweiten Oscar in Folge zu bescheren. Das Rennen ist bei den animierten Kurzfilmen tendenziell offener als in anderen Kategorien, aber alles andere als ein Oscar für diesen liebevollen und versöhnlichen Film von Dan Ojari und Mikey Please wäre zumindest eine kleine Überraschung.
Sicher, mit Joanna Quinn und ihrer semi-autobiografischen Selbstverwirklichungs-Komödie «Affairs of the Art» geht hier auch nicht weniger als eine Legende des Animationsfilms ins Rennen – doch die Wahl-Waliserin, die einem breiten Publikum vorallem durch ihre Arbeit mit dem WC-Papier-Bären Charmin aufgefallen sein wird, dürfte Mühe bekunden, gegen das herzige und knuffige Wahl-Mäuschen Robin anzukommen. Verdient wäre der Oscar für «Affairs of the Art» und Joanna Quinn – notabene die einzige weibliche Regisseurin in beiden Kategorien – aber auf jeden Fall. Immerhin: Am Badener Trickfilmfestival Fantoche gab es für den Film im vergangenen September den Publikumspreis.
Praktisch chancenlos dürften dagegen die weiteren Kandidaten sein: Der gleichermassen faszinierende wie abstossende «Bestia» von Hugo Covarrubias wirft einen Blick in die Abgründe der chilenischen Geschichte. Schon 2015 sicherte sich mit «Historia de un oso» («Bear Story») ein Film über die Aufarbeitung des chilenischen Staatsstreichs von 1973 den Oscar in dieser Kategorie; doch anders als «Historia» bietet «Bestia» wenig Kontext und bleibt so für ein unkundiges Publikum nicht zugänglich.
Alberto Mielgo indessen sorgte mit seinem Kurzfilm «The Witness» (2019) in der Netflix-Anthologie-Serie «Love, Death & Robots» für Aufsehen, was zumindest teilweise erklären dürfte, warum der irgendwie erstaunlich nichtssagende «The Windshield Wiper» um einen Oscar buhlen darf. Ein Sieg wäre überraschend, und angesichts der besseren Konkurrenz auch enttäuschend.
Nicht ganz so überraschend, aber dennoch unwahrscheinlich, wäre vor einigen Wochen noch ein Sieg von «Boxballet» gewesen, einem Film über die ungleiche, wortlose Liebe zwischen einem Boxer und einer Ballerina – «gewesen», weil das aktuelle Weltgeschehen dem russischen Kurzfilm wahrscheinlich die letzte Aussicht auf einen Oscar geraubt haben dürfte. In Zeiten, wo Filmfestivals russische Filmemacher*innen ausladen und selbst in der Schweiz die Kinostarts russischer Filme wie «Petrov’s Flu» von Kirill Serebrennikov kurzerhand verschoben werden, ist es höchst unwahrscheinlich, dass genug Leute für den Kurzfilm von Anton Dyakov stimmen werden. Das hat Dyakov nicht verdient, ist sein Film doch ein liebevolles, berührendes kleines Werk.
Das Duell: Disney vs. Netflix
In diesem Jahr dürften die zwei grossen Studios Disney und Netflix die beiden Animations-Oscars unter sich ausmachen. Disney geht mit gleich drei Filmen ins Rennen um den besten Animationsfilm und stellt dort mit «Encanto» auch den klaren Favoriten, ist dafür bei den Kurzfilmen überraschend abwesend. Dort springt wiederum Netflix mit «Robin Robin» in die Bresche, für den sich der Streaming-Gigant wohl den zweiten Animations-Kurzfilm-Oscar in Folge sichern dürfte. Netflix ist mit «The Mitchells vs. the Machines» ausserdem auch bei den animierten Langfilmen nominiert und beweist, dass mit dem Konzern im Trickfilmbusiness auch künftig zu rechnen sein dürfte. In Zeiten, in denen dem übergrossen Disney langsam die Konkurrenz ausgeht, ist es erfreulich, wenn ein Studio dem Mickey-Mouse-Konzern die Stirn bieten kann. Ob das Netflix mit seinen eingekauften Inhalten («The Mitchells vs. the Machines» übernahm man von Sony, «Robin Robin» ist eine Koproduktion mit dem britischen Aardman-Studio) auf Dauer gelingt, oder ob hier nicht ein stärkerer Fokus auf eigenständige Produktionen von Vorteil wäre, wird sich zeigen. Das Rennen ist auf alle Fälle lanciert.
–––
Titelbild: «Flee». Quelle: Filmcoopi
No Comments