Schon bevor am 12. März in Los Angeles zum 95. Mal die Oscars verliehen werden, gibt es in den beiden Animationskategorien «Bester Animationsfilm» und «Bester animierter Kurzfilm» einen grossen Gewinner: den Puppentrickfilm, der in beiden Kategorien mitmischt. Was das für Disney bedeutet und welche Rolle die Streaming-Konkurrenz dabei spielt, erfahrt ihr in unserer Analyse der nominierten Filme.
Bester Animationsfilm: Guillermo del Oro
- «Guillermo del Toro’s Pinocchio»
- «Marcel the Shell with Shoes on»
- «Puss in Boots: The Last Wish»
- «The Sea Beast»
- «Turning Red»
Nachdem es für Netflix in den letzten drei Jahren zwar immer für eine Nomination reichte, man sich letztlich aber jedes Mal Disney und Pixar geschlagen geben musste, könnte es in diesem Jahr endlich klappen mit dem Animations-Oscar für den Streamingkonzern. Unterstützung bekommt Netflix dabei von Guillermo del Toro («The Shape of Water»), der mit seinem liebevoll gestalteten Stop-Motion-Film «Guillermo del Toro’s Pinocchio» bereits bei den Golden Globes abräumte und auch hier als klarer Favorit ins Rennen geht. Es wäre nach «Wallace & Gromit: The Curse of the Were-Rabbit» (2005) erst der zweite Oscar für einen Puppentrickfilm.
So verdient und erfreulich dieser Sieg für den Netflix-«Pinocchio» auch wäre, so bestärkt er doch einmal mehr den Eindruck, dass der Stop-Motion-Film – wenn er nicht gerade von den Studios Laika oder Aardman stammt – bei den Oscars vor allem dann ernst genommen wird, wenn ein grosser Realfilm-Regisseur auf dem Regiestuhl sitzt: Vor del Toro waren schon Namen wie Wes Anderson («Fantastic Mr. Fox»), Tim Burton («Corpse Bride») und Charlie Kaufman («Anomalisa») mit einem oder mehreren Stop-Motion-Filmen nominiert.

«Marcel the Shell with Shoes on» von Dean Fleischer-Camp
Tatsächlich gibt es in diesem Jahr noch einen zweiten nominierten Stop-Motion-Film, der diese These zumindest ein wenig entschärft. Denn bei «Marcel the Shell with Shoes on» ist mit Dean Fleischer-Camp nämlich weder ein grosser Regisseur am Steuer, noch handelt es sich um einen Film von einem etablierten Studio. Dass es die liebevolle Mockumentary über eine kleine Muschel dennoch auf die Liste der Nominierten geschafft hat, liegt vor allem an der grossen Fanbase, die sich dieser kleine Film seit seiner Weltpremiere am Filmfestival in Toronto erspielt hat. Der Film, der am Trickfilmfestival Fantoche im vergangenen Jahr auch das Schweizer Publikum für sich gewann, wird sich aber vermutlich dem grossen Netflix-Konkurrenten geschlagen geben müssen. Im Duell der Stop-Motion-Filme zieht die kleine Indie-Produktion, die wegen ihres Animation-Realfilm-Mixes lange um die Zulassung zur Oscar-Kategorie bangen musste, gegenüber dem aufwendigen und starbesetzten Blockbuster wohl den Kürzeren.
Bei den letzten Oscars gab es gleich eine Dreifach-Nomination für Disney und Pixar; dieses Jahr muss das Studio mit einer einzigen Nomination vorliebnehmen: und zwar mit der für den schrägen Pixar-Coming-of-Age-Trip «Turning Red» von Domee Shi, die zudem als erste weibliche Regisseurin seit 2018 für den Preis nominiert wurde. Es wäre aber tatsächlich eine Überraschung, wenn sich Shi, die 2019 für «Bao» den Animations-Kurzfilm-Oscar holte, hier durchsetzen kann – zu umstritten ist «Turning Red» bei der eher konservativeren Wähler*innenschaft für seinen sehr befreiten Umgang mit Körper und Sexualität. Und in einem Jahr, in dem sich alle so einig sind wie bei «Guillermo del Toro’s Pinocchio», hat es ein solcher Film selbst unter den Fittichen von Branchenkrösus Disney schwer.
«Der Zuspruch, der dieser überraschend gelungenen Büsi-Fortsetzung entgegenschwappt, macht ‹Puss in Boots: The Last Wish› zu einem heimlichen Mitfavoriten.»
Etwas unklarer sind die Prognosen im Falle von «Puss in Boots: The Last Wish» von Joel Crawford, mit dem die frühere Erfolgsschmiede DreamWorks («Shrek», «How to Train Your Dragon») nach zwei Jahren Abwesenheit wieder zu den Oscars zurückkehrt. Das Studio hat nach seinem Kauf durch Universal und einigen Flops von seiner Wichtigkeit in Hollywood eingebüsst – den Ton geben inzwischen andere an.
Zum Beispiel Illumination (das nach der Nichtberücksichtigung von «Minions: The Rise of Gru» noch immer auf seine zweite Oscar-Nomination wartet), dem DreamWorks seit der Übernahme durch Universal unterstellt ist, und welches das Studio mithilfe einer geschickten Neuausrichtung wieder auf Kurs bringen will. Mit Erfolg: «Puss in Boots: The Last Wish» ist schon jetzt ein Kassenschlager. Der Zuspruch, der dieser überraschend gelungenen Büsi-Fortsetzung aus dem «Shrek»-Universum entgegenschwappt, macht den Film zudem zu einem heimlichen Mitfavoriten. Ein DreamWorks-Oscar in diesem Jahr wäre aber trotzdem nicht weniger als eine Sensation.
Zum ersten Mal seit zehn Jahren ist bei den oscarnominierten Animations-Langfilmen kein nicht-amerikanischer Kandidat mehr dabei. Verantwortlich dafür ist die Netflix-Produktion «The Sea Beast» von Ex-Disney-Regisseur Chris Williams («Big Hero 6»), die überraschend den erwarteten fremdsprachigen Kandidaten «Inu-Oh» von Masaaki Yuasa («Mind Game») ausstach. Die animierte Seemonster-Jagd ist aber – trotz guter Kritiken und einer geplanten Fortsetzung – chancenlos.

«The Boy, the Mole, the Fox and the Horse» von Peter Baynton und Charlie Mackesy
Bester animierter Kurzfilm: Der Oscar-Faktor
- «The Boy, the Mole, the Fox and the Horse»
- «The Flying Sailor»
- «Ice Merchants»
- «My Year of Dicks»
- «An Ostrich Told Me the World Is Fake and I Think I Believe It»
Bei der Menge an Animationskurzfilmen, die jedes Jahr produziert werden, ist es für viele gute Filme praktisch unmöglich, überhaupt die Aufmerksamkeit der Academy zu erlangen. Da hilft es, wenn Filme über einen gewissen «Oscar-Faktor» verfügen – also bereits bekannte oder zumindest bereits einmal oscarnominierte Regisseur*innen oder Produzent*innen an Bord sind.
Wenig überraschend ist daher auch der Film mit den gewichtigsten Fürsprecher*innen jener, der im Augenblick als grosser Favorit auf den Oscar für den besten Animationskurzfilm gilt: Mit J.J. Abrams («Star Wars: The Force Awakens») als Produzenten sowie Woody Harrelson («Zombieland: Double Tap») und dem früheren Apple-Stardesigner Jony Ive als ausführenden Produzenten geht «The Boy, the Mole, the Fox and the Horse» mit sehr viel Star-Power ins Rennen. Hinzu kommen namhafte Sprecher wie Tom Hollander («The King’s Man»), Idris Elba («Three Thousand Years of Longing») und Gabriel Byrne («The Usual Suspects»).
Charlie Mackesys Adaptation seines eigenen Kinderbuch-Bestsellers erzählt von der Freundschaft eines Jungen mit einem Maulwurf, einem Fuchs und einem Pferd. Die Geschichte, bei der der kleine im Schnee herumtollende Junge unerwarteterweise nicht gottsjämmerlich erfriert, ist eine kitschdurchtränkte Aneinanderreihung sinnbefreiter Kalenderblatt-Floskeln, welche die Academy tragischerweise mit pädagogisch wertvollen Botschaften verwechseln wird. Den Oscar hat «The Boy, the Mole, the Fox and the Horse» so gut wie auf sicher.
«‹The Boy, the Mole, the Fox and the Horse› ist eine kitschdurchtränkte Aneinanderreihung sinnbefreiter Kalenderblatt-Floskeln, welche die Academy tragischerweise mit pädagogisch wertvollen Botschaften verwechseln wird.»
Ebenfalls eine Oscar-Vergangenheit haben Wendy Tilby und Amanda Forbis. Zusammen waren sie bereits zweimal nominiert – für «When the Day Breaks» (1999) und «Wild Life» (2011) –, Wendy Tilby war zudem 1992 mit ihrem Kurzfilm «Strings» (1991) im Rennen. In «The Flying Sailor» erzählen sie die Geschichte eines Seemanns, der bei der Explosion eines Munitionsschiffs im Hafen von Halifax 1917 fast zwei Kilometer weit landeinwärts geschleudert wurde. Der Kurzfilm, der reale Aufnahmen geschickt mit handgezeichneter Animation mischt, ist eine sinnliche, nicht unbedingt narrative Angelegenheit – weshalb es der etwas zu lang geratene Selbstfindungstrip auch bei der Academy schwer haben dürfte.
Die Oscar-Wähler*innen sind nicht gerade berühmt für ihren Mut, auch etwas kontroversere Animationsfilme auszuzeichnen – weshalb auch «My Year of Dicks» von Sara Gunnarsdóttir nicht zu favorisieren ist. Der Film basiert auf einem Essay der Autorin Pamela Ribon («Moana»), die charmant-ironisch über ihre Jugend und ihre Bemühungen, ihr erstes Mal zu haben, sinniert. Erzählt wird das in fünf sehr unterschiedlich gehaltenen Episoden – eine pro titelgebendem «Dick». Ein witziger und schräger Film, der der Altherren-Academy guttun würde, und der wohl genau deshalb leer ausgehen wird.

«My Year of Dicks» von Sara Gunnarsdóttir
Nach seinem Sieg bei den Annies – den wichtigsten Animations-Preisen – rechnen einzelne noch mit «Dark Horse»-Chancen für «Ice Merchants» von João Gonzalez. Der wunderbar animierte Film über eine Vater-Sohn-Beziehung am Gefrierpunkt ist ein kleines Juwel, das die Auszeichnung auf jeden Fall verdient hätte.
Für die Meta-Puppentrick-Komödie «An Ostrich Told Me the World Is Fake and I Think I Believe It» von Lachlan Pendragon, bei der der Titel das wohl Interessanteste ist, dürfte es indes – zu Recht – bei der Nomination bleiben. Der Studentenfilm wurde bereits bei den Studenten-Oscars – dem Abschlussfilm-Pendant der Academy – ausgezeichnet. Die «echten» Oscars sind für diesen selten wirklich witzigen Stop-Motion-Film aber eindeutig eine Nummer zu gross.
Ein schlechtes Jahr für Disney und Pixar
Platzhirsch Disney kann sich bei den diesjährigen Oscars überhaupt nicht glücklich schätzen. Trotz drei veröffentlichter Langfilme reicht es in diesem Jahr lediglich für eine Nomination in der Hauptkategorie, und mit «Turning Red» ist es zudem eine eher chancenlose. Bei den animierten Kurzfilmen geht das Studio, das in 95 Oscar-Jahren bislang 20 mal siegreich war, gar komplett leer aus. Nicht nur reichte es nicht für eine Nomination; auch ein Platz auf der Shortlist mit 15 Filmen war heuer nicht drin für den Mauskonzern. In der Tat dürften diese Oscars eine Zeitenwende für den früheren Animationsgiganten einläuten, der sich in diesem Jahr aller Wahrscheinlichkeit der Streamingkonkurrenz von Apple und Netflix geschlagen geben muss.
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Bilderquellen: Netflix (Titelbild: Guillermo del Toro’s Pinocchio), Universal Pictures International Switzerland GmbH & Seattle International Film Festival (Marcel the Shell with Shoes on), Apple TV+ (The Boy, the Mole, the Fox and the Horse), Jeanette Jeanenne (My Year of Dicks).
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