Am 28. Februar werden in Los Angeles zum 88. Mal die Academy Awards vergeben. Eine Kategorie, die Jahr um Jahr – verständlicherweise – vom Rennen um den besten Film, die besten Darsteller und die beste Regie überschattet wird, ist diejenige für den besten Dokumentarfilm.
Noch nie ist es einer Dokumentation gelungen, in der „Best Picture“-Kategorie nominiert zu werden; für Regie und Drehbuch sind Non-Fiction-Filme nicht einmal zugelassen. Doch auch dieses Jahr lohnt es sich wieder, die Kandidaten genauer unter die Lupe zu nehmen.
„Amy“
2011 sorgte die Entscheidung der Academy, „Senna“, Asif Kapadias gefeiertes Porträt des 1994 tödlich verunfallten Formel-1-Fahrers Ayrton Senna, nicht zu nominieren, unter Kritikern für Unverständnis und Empörung. Dieses Mal hat es der britische Regisseur mit „Amy“ in die Oscar-Endausscheidung geschafft. Sein Film liefert einen faszinierend detaillierten Einblick in das kurze, tragische Leben der Sängerin Amy Winehouse, die am 23. Juli 2011, nach einer von turbulenten Beziehungen und ausuferndem Drogenmissbrauch geprägten Karriere, einer Alkoholvergiftung erlag. Aus Interviews mit Freunden und Bekannten, privaten Videos und Behind-the-Scene-Aufnahmen aus dem Studio zeichnet Kapadia das Bild einer musikbegeisterten jungen Frau, deren Leben an schlechten Ratschlägen und zweifelhaften Bekanntschaften scheiterte. Man kann dem Film ankreiden, dass er sich die Schuldigen an Winehouses Tod etwas gar entschieden aussucht und das Narrativ dadurch aktiv in eine bestimmte Richtung lenkt. Doch „Amy“ funktioniert letztlich sowohl als informative Biografie als auch als kraftvolles Plädoyer gegen die Skrupellosigkeit der Boulevard-Medien, die nur allzu bereitwillig das Bild von Winehouse als Jahrhunderttalent über den Haufen geworfen und durch jenes von Winehouse als dauerbetrunkene Skandalnudel ersetzt haben.
„Cartel Land“
Obwohl diese Dokumentation über den Krieg, den private Paramilitärs in Arizona und Mexiko gegen die übermächtigen Drogenkartelle führen, stilistisch und ästhetisch zu den auffälligeren Nominierten in diesem Jahr gehört, hinterlässt sie einen schalen Nachgeschmack. Was Matthew Heineman in „Cartel Land“ zeigt, ist zweifellos eindrücklich: Seine Kamera ist hautnah dran, wenn die „Autodefensas“, ins Leben gerufen vom Arzt José Manuel Mireles Valverde, im südmexikanischen Staat Michoacán mit Sturmgewehren Kartell-Vollstrecker in die Ecke drängen. Zusammen mit Tim „Nailer“ Foley von der „Arizona Border Recon“ patrouilliert Heineman am Grenzzaun zwischen Mexiko und den USA. Viele Bilder sind erschreckend, und die sich zunehmend verschärfenden Streitereien innerhalb der Autodefensas-Hierarchie verweisen auf die komplizierte soziale Dimension des Drogenkriegs. Umso seltsamer wirkt die Entscheidung, Foleys Bürgerwehr quasi als US-Äquivalent von Mireles‘ grossflächiger Initiative zu inszenieren. Zwar hat auch diese ihre problematischen Aspekte, doch wird sie wenigstens einigermassen nachvollziehbar kontextualisiert. Die Arizona Border Recon hingegen – obschon sich ihre Mitglieder als Patrioten, Landesbeschützer und Krieger für das Gute bezeichnen und Foley sich von den Rassisten in der Gruppe distanziert – wirkt primär wie ein Versammlung frustrierter Ex-Soldaten, die ihre Lust daran legitimieren wollen, ihre XL-Gewehre auf Mexikaner zu richten. Der Einblick, den einem „Cartel Land“ verschafft, ist wertvoll; doch in der Aussage zieht sich der Film leider zu sehr aus der Verantwortung.
„The Look of Silence“
Der zweite – noch bessere – Teil von Joshua Oppenheimers Indonesien-Diptychon gilt als aussichtsreichster Konkurrent von „Amy“ im Rennen um den Dokumentarfilm-Oscar. Das hört man gerne, ist „The Look of Silence“ doch einer der stärksten Filme, die 2015 in den Kinos zu sehen waren. Wie schon in „The Act of Killing“ (2012) beschäftigt sich Oppenheimer mit dem langen Schatten der antikommunistischen Massaker, denen in Indonesien zwischen 1965 und 1966 fast eine Million Menschen zum Opfer fielen. Noch heute werden die damaligen Täter – Gangster und Paramilitärs, die mit brutalsten Methoden und unter meist fadenscheinigen Vorwänden angebliche Kommunisten hinrichteten – wie Helden verehrt; viele von ihnen bekleiden hohe Staats- und Armee-Ämter. In „The Look of Silence“ porträtiert Oppenheimer den Optiker Adi, den jüngeren Bruder eines ermordeten „Kommunisten“, der in seiner Heimatstadt die Verantwortlichen aufsucht, um zu versuchen, ihre Taten verstehen und ihnen vielleicht sogar vergeben zu können. Anders als in „The Act of Killing“, wo die Mörder zu Wort kamen, stehen hier die Opfer und die Frage im Zentrum, wie sich der Unmenschlichkeit mit pazifistischer Menschlichkeit entgegentreten lässt. Ein erschütternder, eminent wichtiger Film.
„What Happened, Miss Simone?“
Ähnlich wie „Amy“ ist auch dieser Film eine Musik-Dokumentation wie aus dem Bilderbuch. Mit einer stimmig wirkenden Struktur, die bisweilen Erinnerungen an Martin Scorseses „No Direction Home“ weckt, zeigt Liz Garbus, wie Nina Simone, geborene Eunice Waymon, als gelernte Klassik-Pianistin in den 1950er Jahren zur Bar-Sängerin wurde, in den 1960er Jahren zur lebenden Blues- und Jazz-Legende avancierte und auf dem Höhepunkt der Civil-Rights-Ära ihr weisses Publikum mit ihrer „Black Pride“-Rhetorik vor den Kopf stiess. Gerade dieser stürmische Abschnitt ihrer Karriere ist es, dessen Darstellung aus „What Happened, Miss Simone?“ heraussticht. Während sich die Fernsehkommentatoren in den USA vor lauter Empörung über Beyoncés „Formation“-Videoclip um Kopf und Kragen reden, wird in Garbus‘ Film offensichtlich, in welch guter Gesellschaft sich „Queen B“ befindet: Wut – über Polizeibrutalität, über terroristische Angriffe auf schwarze Kirchen, über die Morde an Martin Luther King und Malcolm X – und das unverhohlene Zelebrieren der eigenen schwarzen Identität sind nicht zu ignorierende Faktoren im Kampf der Afroamerikaner um Anerkennung und Gleichstellung. Garbus erzwingt die Assoziation niemals, sondern begnügt sich damit, die faszinierende, letztlich tragische Vita Nina Simones unter diesem Gesichtspunkt darzustellen. Die Nachricht kommt an – unmissverständlich!
„Winter on Fire: Ukraine’s Fight for Freedom“
Manche Dokumentarfilme sind ästhetisch innovativ, andere lenken die Aufmerksamkeit auf ein übersehenes Problem – und manche dokumentieren einfach. Zu Letzteren gehört die Netflix-Produktion „Winter on Fire“, die in keinerlei Belangen das Rad neu erfindet, ihre Ziele aber dennoch vollumfänglich erreicht. Mit Interviews, simplen Infografiken, Amateur- und TV-Aufnahmen erzählt Evgeny Afineevsky die Geschichte der dreimonatigen Euromaidan-Proteste in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Übersichtlich und konzis wird rekonstruiert, wie eine Versammlung von wenigen hundert Demonstranten im November 2013, die gegen Präsident Viktor Yanukovychs Rückzug aus einem EU-Handelsabkommen protestierten, zu einer blutigen Auseinandersetzung eskalierte, an deren Ende Yanukovych das Land verliess. Obwohl Afineevsky die Emotionen, auch dank eines etwas überdramatischen Musikscores, mit der ganz grossen Kelle anrührt, verfehlt seine Verneigung vor dem politisch mündigen Volk und dessen Widerstand gegen die willkürliche Staatsgewalt ihre Wirkung nicht.
Bildquelle: Oscars.org
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