«Die schwarze Spinne»: Das Interview mit Markus Fischer, Barbara Sommer und Plinio Bachmann
«Die schwarze Spinne» von Jeremias Gotthelf ist einer der grössten Klassiker der Schweizer Literaturgeschichte. Wir haben uns mit Regisseur Markus Fischer («Der Bestatter») sowie den Drehbuchautor*innen Plinio Bachmann und Barbara Sommer («Moskau einfach!») über ihre neue Leinwandadaption unterhalten.
Dieses Interview wurde zu Recherchezwecken für diesen Swissinfo-Artikel geführt.
Wie kamt ihr das erste Mal mit dem Quellenmaterial, der Novelle «Die schwarze Spinne» von Jeremias Gotthelf, in Kontakt?
Markus Fischer: Ich war schon seit Längerem auf der Suche nach einem historischen Stoff und stiess dabei auf «Die schwarze Spinne». Ich merkte aber, dass man das so, wie es dasteht, nicht verfilmen kann. Ich habe mir auch nicht zugetraut, dass ich das schreiben kann – dazu braucht es gute Drehbuchautoren. Also fragte ich Barbara und Plinio, ob sie Lust hätten, hier einzusteigen. Sie hatten Lust, schrieben das Drehbuch und schufen so diese Adaption mit vielen tollen neuen Ideen, die dabei halfen, aus dem Stoff einen Kinofilm zu machen.
Barbara Sommer: Ich komme aus München, und wenn ich mich recht entsinne, war die einzige Schweizer Literatur, die wir im Gymnasium lasen, diese Novelle. Und die hat mich damals schon total beeindruckt. Es hat mich irrsinnig gefreut und gereizt, als Markus mit der Idee kam und fragte, ob wir das machen wollten.
Plinio Bachmann: Wir lasen es in der Schule nicht. Wir beschäftigten uns quälende viereinhalb Jahre lang mit «Unterm Rad» von Hermann Hesse. Danach studierte ich aber Literatur, und im Rahmen des literarischen Akzesses – einer riesigen Liste literarischer Werke aus verschiedenen Epochen, aus denen man jeweils ein Beispiel wählen musste – las ich «Die schwarze Spinne» zum ersten Mal.
MF: Ich las es einmal als junger Mann, als ich etwa 20 Jahre alt war. Und ich las es auch nicht richtig – ich glaube, ich brach es ab. Aber meine Hauptmotivation war es, ein historisches Mysterydrama zu finden. Ich wollte mich unbedingt auf einen historischen Film konzentrieren. Dabei stiess ich auf diesen historischen Stoff, und wir entschieden uns, dass der auch historisch bleibt, dass der im 13. Jahrhundert bleibt.
BS: Uns ist auch aufgefallen, dass man die Geschichte heute nicht mehr so erzählen kann, wie sie damals aufgeschrieben wurde, auch mit dem historischen Kontext von damals. Ein wichtiges Stichwort für uns war, dass bei Gotthelf die böse Frau von ausserhalb kommt: Sie ist eine Lindauerin aus Deutschland, die sich auf den Teufel einlässt. Die Frau ist die Böse. Das Ganze ist in einem extrem christlichen Kontext zu Hause, wo der Kontrast zwischen Gut und Böse, dieser Dualismus, sehr stark gepredigt wird. In unserer Wahrnehmung hat dieser Ursprungstext einen reaktionären Charakter. Ich glaube, die grosse Herausforderung für uns war, die Geschichte in der historischen Situation zu belassen, aber trotzdem so zu adaptieren, dass sie für uns heute eine richtige Aussage bekommt und lesbar und interessant wird.
«In unserer Wahrnehmung hat dieser Ursprungstext einen reaktionären Charakter. Ich glaube, die grosse Herausforderung für uns war, die Geschichte in der historischen Situation zu belassen, aber trotzdem so zu adaptieren, dass sie für uns heute eine richtige Aussage bekommt und lesbar und interessant wird.»
MF: Ich finde, im Film ist immer noch Gotthelf drin, aber es ist auch ein neuer Gotthelf.
PB: Ich finde, wir sind ziemlich nahe an Gotthelf. Wir haben einfach ein paar wesentliche Akzente verschoben. Gotthelfs Novelle ist wie eine Predigt – eine Predigt über die Versuchung des Menschen durch den Teufel. Es ist eine Erbauungsgeschichte.
BS: Ich wollte Gotthelf auch nicht «korrigieren». Akzentverschiebung ist genau das richtige Wort. Ich wollte den Fokus auf andere Dinge richten, die in dem Ganzen enthalten sind. Ich wollte diese grösser machen, und dafür Dinge, die für uns heute nicht mehr so wichtig sind, zurücknehmen.
Der religiöse Aspekt des Quellenmaterials bleibt bei euch trotzdem ziemlich stark erhalten. Wie beurteilt ihr die Rolle der Religion in eurer Adaption?
PB: Ich glaube, bei uns wurde die Religiosität mehr zum Zeitkolorit. Die Verhandlung von Gut und Böse ging vom Theologischen ins Psychologische. Bei uns handelt das grosse Drama nicht davon, ob die Seele am Schluss in den Himmel oder in die Hölle kommt. Bei uns gibt es die Religiosität und den Aberglauben der Menschen als Teil der geduckten Welthaltung des Mittelalters. Aber bei uns ist zum Beispiel Christine nicht das Einfallstor für das Böse, weil sie wie Eva eine verführbare Frau ist, sondern weil sie einen Schuldkomplex hat, weil ihre Mutter bei ihrer Geburt starb. Und der Teufel ist ein guter Psychologe, der sie bei diesem Schuldgefühl erwischt.
«Die Kirche ist eine Mitverräterin. Und das ist natürlich ein entscheidender Unterschied zu Gotthelf.»
Wir haben auch versucht, zu zeigen, dass die Gewalt, das Böse, der Druck, der von aussen kommt, die Folge eines «post-traumatic stress disorder» ist. Es ist eine importierte, traumatisierte Gewalt, die aus einem weit entfernten Krieg von den Deutschrittern in dieses Dorf hineingetragen wird. Mit diesen Elementen wollten wir die religiöse Grundargumentation des Stoffs aushebeln.
BS: Bei Gotthelf spielt auch der Pfarrer als Vertreter der Religion eine ganz andere Rolle. Er schafft es letztlich, die schwarze Spinne im Zaum zu halten. Er opfert sich. Da gingen wir einen anderen Weg, weil für uns wichtiger war, dass Christine am Schluss die Menschlichkeit rettet, indem sie das Menschenopfer verhindert. Dort liegt für uns das zeitgemäss «Religiöse», wenn man so will.
PB: Bei Gotthelf ist der Pfarrer ein heldenhafter Priester, der sich unter Aufopferung seiner selbst in den Kampf mit dem Teufel wirft, derweil er bei uns ein feiger Hund ist, der abhauen will, sobald es brenzlig wird.
BS: Es gibt auch keine rettende transzendente Instanz. Die Rettung kann nur aus dem Menschen selber herauskommen.
MF: Die Kirche ist eine Mitverräterin. Und das ist natürlich ein entscheidender Unterschied zu Gotthelf: Bei uns übernimmt Christine diese Funktion und opfert sich, fast wie ein Gang nach Golgatha. Sie opfert sich als Mensch, und nicht als Christin. Diese Verschiebung fand ich sehr spannend. Das war eine geniale Idee von den Autoren – eine der schönsten Veränderungen an der Geschichte überhaupt.
PB: Der Bussgang zeigt ja auch, dass der Voodoo der Kirche versagt. Alle sagen, dass Christine nur durch Dreck und Staub zur Schwarzen Madonna kriechen müsse, damit alles wieder gut werde – und dann sieht man, dass das einfach nicht funktioniert. Es braucht die Menschlichkeit von Christine.
«Das bigotte Abbild bei Gotthelf konnten und wollten wir nicht übernehmen.»
MF: Das hat natürlich auch eine moderne Komponente heute, wo die Kirche stark in der Kritik steht – Missbrauch und so weiter. Das ist also auch eine Form der Modernisierung des Stoffs: Das bigotte Abbild bei Gotthelf konnten und wollten wir nicht übernehmen. Christine wurde zur Heldin.
Euer Film lenkt den Fokus auch weg von der Spinne an sich: Man sieht sie aus dem Augenwinkel und dann geht die Kamera weiter. Ihr sucht nicht den Body-Horror. War das Teil dieser Betonung des Menschlichen?
MF: Das war ein schwieriger Prozess. Man hätte einen Creature-Film machen können, aber das wäre mir billig vorgekommen. Ich dachte eher, das müsse wie bei «Alien» (1979) sein – eher in den Köpfen der Zuschauer. Die Spinne wird zwar noch visuell dargestellt: Sie kommt vor in Form von Christine. Aber sie steckt mehr in den Köpfen der Zuschauer und in den Köpfen der Bevölkerung. Wir sagten uns, das sei kein Horrorfilm, sondern ein Mysterydrama. Das kommt diesem Genre viel mehr entgegen, als wenn man einen Creature-Film machen würde. Das andere wäre wahrscheinlich lächerlich gewesen. Deshalb wollte ich da stilvoll bleiben und es dem Publikum überlassen. Ich hoffe, es funktioniert.
«Für uns stand zu Beginn eher ‹The Fly› Pate. Wir arbeiteten auf die Verwandlung von Christine zur Kreatur hin, bevor wir merkten, dass wir die Verwandlung symbolischer erzählen müssen.»
PB: Markus hat uns da auch herangeführt. Für uns stand zu Beginn eher «The Fly» (1986) Pate. Wir arbeiteten auf die Verwandlung von Christine zur Kreatur hin, bevor wir merkten, dass wir die Verwandlung symbolischer erzählen müssen.
MF: In der Endphase ist die Spinne ja auch kein Horrorelement mehr, sondern eher eine Verwandte von Maria. Maria spiegelt sich in und wir zu einer Christine. Die Absicht war, dass die Spinne am Anfang, wenn sie auftaucht, ein Angst- und Horrorelement ist – aber am Ende hat Maria sie in der Hand und hat keine Angst. Das fand ich ein sehr schönes Bild, auch um zu zeigen, dass die Spinne ein Symbol ist und nicht allein ein Horror-Creature.
BS: Dass die Figuren im Zentrum Zwillingsschwestern sind, ist auch eine neue Setzung von uns. Maria verkörpert die «gute», konservative, religiös orientierte Schwester, und die andere ist die archaische, die ungebundene, die freie, die auch diesen Lebensstil nicht führen möchte. Das interessierte uns sehr, und da kam uns auch entgegen, dass der Fokus nicht auf Creature-Film und Horror lag, sondern darauf, wie die beiden Frauen zueinanderstehen und wie die Maria sukzessive aus ihrer Welt hinausblickt und am Schluss einen Teil von Christine übernimmt.
MF: Das fand ich toll: Christine musste sich zwangsläufig Gotthelf-mässig opfern – aber Plinio und Barbara schickten Maria schon früh auf einen emanzipatorischen Weg. Da kommt es zu einer Ablösung: Maria wird ganz am Schluss zur Hauptfigur.
BS: Uns war auch wichtig, dass Christines Funken, ihr Glauben an die Menschlichkeit, auf eine Art weiterleben kann, und dass diese Ablösung stattfinden kann. Sie soll sich nicht einfach ohne Wirkung opfern. Man soll merken, dass sie in Maria übergeht und Maria nun eine andere Kraft hat. Maria ist eine andere Frau geworden. Sie kann nun die Welt neugestalten.
MF: Und Christine löst das aus. [Christine-Darstellerin] Lilith Stangenberg sagte immer, sie fühle sich wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Durch dieses ständige Wechselbad ihrer Zustände findet Maria immer mehr zu ihr. Das hat diese Dimension noch einmal erhöht, sonst wäre sie am Schluss einfach ein Opfer gewesen.
BS: Dann wäre es keine Emanzipationsgeschichte mehr.
PB: Maria ist die Geburt der Zivilcourage in einem ansonsten in Feigheit und Angst aufgelösten Dorf.
BS: Aber sie hätte das ohne Christine nie geschafft. Ich finde es sehr wichtig, dass Christine der Auslöser dafür ist, dass Maria sich emanzipieren kann.
«Den historischen Kontext musste man natürlich auch behalten. Wir konnten nicht einen ‹feministischen› Film machen.»
MF: Den historischen Kontext musste man natürlich auch behalten. Wir konnten nicht einen «feministischen» Film machen: Damals hatten die Frauen keine Rechte. Und wir haben eine Frau, die in diesem System eingebunden ist. Dass so eine Einzelperson da herausragt, ging auch im historischen Kontext noch auf. Man konnte aber nicht einfach Frauenfiguren, wie man sie heute kennt, ins Mittelalter versetzen. Klar, Christine ist eine Agnostikerin, könnte man sagen – eine, die frei lebte. Ein Jahrhundert später wäre sie wahrscheinlich eine Hexe gewesen. Aber gleichzeitig ist sie auch extrem wichtig für die Bevölkerung, denn sie bringt Kinder möglichst gesund auf die Welt und rettet den Frauen und den Kindern das Leben.
PB: Dieses medizinische Frauenwissen, das Christine als Hebamme und spätere Hexe hat, bringt sie auch automatisch in Konflikt mit der Kirche. Aber letztlich haben wir wirklich alles aus der Novelle genommen. Das fromme Mütterchen gibt es ja – das wurde einfach zur Zwillingsschwester. Und die wilde Lindauerin wollten wir nicht von aussen kommen lassen, sondern aus dem Inneren des Dorfes. Und auch die Gewaltspirale der Deutschritter haben wir nicht erfunden – aber das ist ein Nebensatz in der Gotthelf-Novelle, dem wir nachgingen: Was sind Deutschritter? Was ist ein Komtur? Warum sind die hier? Wo kommen die her? Was sind die Polenkriege? Das haben wir grösser gemacht, weil uns das interessiert hat.
BS: Wir wollten auch den Komtur psychologisch aufladen und haben ihn deshalb mit diesem Trauma versehen.
MF: In all meinen Filmen war mir immer wichtig, dass der sogenannte Bösewicht einen Hintergrund hat. Sonst ist ein Bösewicht nicht interessant. Sobald er mit diesem Schlachtentrauma lebt, kann man auch ein wenig nachvollziehen, warum er sich emotional nicht im Griff hat. Und trotzdem ist er eine Bedrohung. Aber im Gegensatz zu einer früheren Verfilmung oder verschiedenen Theateradaptionen hat er hier einen Boden. Er ist ein Mensch. Christine sagt einmal in der Kirche: «Aber er ist ein Mensch». Das lässt sich vom Teufel auf den Komtur übertragen, denn für mich war die Verkörperung des Teufels der Komtur. Ich fand es wichtig, diese Verbindung herzustellen.
Der Stoff wurde 1983 von Mark Rissi schon einmal verfilmt, und diese Adaption macht vieles, das eure Version nicht macht: Sie hat eine Rahmenhandlung, wenn auch nicht jene von Gotthelf, sondern eine, die tief in der Schweiz der Achtzigerjahre verwurzelt ist – ein Versuch, den Stoff in der Gegenwart zu verorten. Der Film hat auch einen Body-Horror-Anstrich, und er ist einer der kommerziell erfolgreichsten Schweizer Filme der Achtzigerjahre. Habt ihr euch mit diesem Kontext auch auseinandergesetzt?
PB: Als wir mit der Arbeit an der «Schwarzen Spinne» begannen, erwähnten wir das in irgendwo in irgendeinem Interview. Daraufhin sagten etwa sechs verschiedene Parteien, Teams und Künstler, sie arbeiteten auch an einer «Schwarzen Spinne». Wir merkten: Fuck, «Die schwarze Spinne» liegt überall auf dem Tisch. Wir, oder zumindest ich, haben uns dann bewusst für nichts anderes interessiert. Ich habe den Film von 1983 nicht einmal gesehen.
MF: Ich habe ihn einmal gesehen, und er hat uns für unsere Adaption nicht inspiriert. Er ist ganz anders. Ich will ihn nicht kritisieren, aber er ist nicht der Film, den ich hätte machen wollen. Woran ich mich aber erinnere, ist eine Fernsehstudio-Inszenierung, quasi eine Theateraufzeichnung, vom grossen Werner Düggelin. Die habe ich mir mehrmals angeschaut. Gut, es hatte Pappbäume und solche Sachen, aber da waren Dinge, die mich interessierten: Dort ist der Teufel zum Beispiel eine Frau, gespielt von Agnes Fink. Und Düggelin konzentrierte sich stärker auf das, was wir auch wollten. Es gibt im Film sogar zwei, drei Sätze, die dort 1:1 auch so fielen.
PB: Ich nehme an, der Reflex, historische Stoffe in die Gegenwart zu holen, hatte früher auch damit zu tun, dass man mit einem normalen Budget die Zeit nicht hätte wechseln können. Heute sind die Technologien billiger verfügbar, die es einem erlauben, auch mit einem Schweizer Budget zu sagen, ein Film spielt im Mittelalter. Darauf hatten wir natürlich auch Lust. Früher konnte man das gar nicht.
MF: Mit unserem Budget von rund 5,5 Millionen Franken hätten wir den Film in der Schweiz allerdings nicht herstellen können. Hier hätte er zehn Millionen gekostet. Das war nur möglich dank der Infrastruktur in Ungarn, durch die Studio- und Filmindustrie, die es da gibt. Es war ein Glücksfall, dass wir das mit diesen Partnern machen konnten.
PB: Es ist eine bittere Pointe, dass Hans von Stoffeln quasi der Präsident von Ungarn ist, nicht wahr?
«Mit unserem Budget von rund 5,5 Millionen Franken hätten wir den Film in der Schweiz allerdings nicht herstellen können. Hier hätte er zehn Millionen gekostet.»
Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?
MF: Das war ein langer Weg. Zuerst wollten wir eine deutsche Koproduktion machen. Das lag an sich auf der Hand, angesichts der deutschen Schauspieler. Dann merkten wir aber, dass deutsche Koproduktionen immer schwieriger werden. Dann versuchten wir es mit Luxemburg, wo wir in den dortigen Studios drehen wollten. Das hätte aber aus verschiedenen Gründen auch nicht funktioniert. Dann schauten wir in Tschechien, weil es da auch historische Bauten und historische Dörfer gibt. Das wollte auch nicht hinhauen.
Durch unsere Produzentin Judith Lichtneckert, die Ungarn-Schweizerin ist, konnten wir uns schliesslich in Ungarn eine Koproduktion mit Laokoon Film sichern: Die haben schon einmal einen Oscar gewonnen und haben ein gutes Standing. Dort gibt es auch die historische Infrastruktur: Die sind spezialisiert auf Filme über das Mittelalter und die Zeit davor. Dort werden Kinofilme, Serien, sogar Blockbuster gedreht. Die meisten historischen Produktionen werden heute in Ungarn und England gedreht.
Die fehlenden Mittel, das Mittelalter authentisch darzustellen, sind tatsächlich auch im Film von 1983 ersichtlich.
BS: Wir benutzen die Mittelalter-Welt ja, um symbolisch gewisse Dinge aufzuzeigen. Der Film spielt in der Historie, aber das hat symbolischen Charakter. Und im Idealfall überlebt das unsere Zeit. Es wird zeitlos, weil es so historisch ist. Aus meiner Perspektive war es auch ein Anliegen, das Ganze nicht in die totale Gegenwart zu setzen, sondern in die Vergangenheit zu pflanzen, damit seine Strahlkraft auch über unsere Zeit hinausgehen könnte.
«Man wird von allen Seiten dazu gedrängt, einen Kontext zu heute zu schaffen. Wir fanden dann, dass man das nicht tun muss.»
MF: Das stand von Anfang an zur Diskussion: Sollen wir es modernisieren und in die heutige Zeit verlegen? Man wird von allen Seiten dazu gedrängt, einen Kontext zu heute zu schaffen. Wir fanden dann, dass man das nicht tun muss. Das schafft man durch die veränderten Figuren und durch deren Entwicklung. In einem Artikel stand etwa, wir hätten die heutigen Klimaveränderungen nicht mit eingebracht. Entschuldigung, aber das ist einfach Bullshit. Das ist uninteressant. Es soll ein zeitloser Film, ein Klassiker bleiben, so wie «Die schwarze Spinne» ein Klassiker ist – mit den veränderten Vorzeichen. Das Moderne ist trotzdem drin.
Mir war auch sehr wichtig – und da habe ich extrem viel recherchiert und gearbeitet –, dass wir versuchen, das Mittelalter fürs Kino filmisch darzustellen: dieser ganze Dreck, all die Details. Es war ein riesiger Aufwand, um den Zuschauern die Illusion zu geben, sie tauchten zwei Stunden lang in die Schweiz des 13. Jahrhunderts ab. Das war auch mein Ehrgeiz als Regisseur.
PB: Und trotzdem liest man es hoffentlich auch als Parabel über Zivilcourage, Feigheit, Sündenböcke und das Aufrechterhalten von Menschlichkeit unter den schlimmsten Bedingungen. Wenn man will, darf man es sogar auf Corona beziehen: Man bedenke, wie tief unsere Gesellschaft gespalten wird durch die Bewältigung dieser Seuche. So funktionieren Gegenwartsbezüge.
BS: Ich bin trotzdem sehr froh, dass die Spinne kein Virus ist.
PB: Ja, das war uns immer wichtig: Es gibt einen Teufel und es sind Spinnen.
MF: Und mit dem Teufel verhält es sich wie mit den Spinnen: So wie die Spinnen keine Creatures sind, ist der Teufel auch kein Gehörnter mit einem Pferdefuss.
PB: Bei Gotthelf ist er ja ein Jäger.
MF: Bei uns ist er einfach ein zeitloser Weltenbürger. Klar, da wünscht sich jeder etwas anderes. Mir gefiel, dass er eine symbolhafte Figur ist und nicht eine reine Genrefigur.
Der Gotthelf-Stoff erzählt auch vom Konflikt zwischen der Schweizer Dorfbevölkerung und dem Weltenbürgertum, repräsentiert durch den Teufel einerseits und den Deutschritterorden andererseits. Bei Gotthelf, wie zum Beispiel auch bei Gottfried Keller, gibt es gewisse antideutsche Ressentiments. Wie seid ihr daran herangegangen?
MF: Im frühen Spätmittelalter gab es natürlich diese enormen Religionskriege zwischen Christen und Muslimen, die bis heute nachhallen. In diesem Kontext, in dem die Deutschritter überall im Heiligen Römischen Reich verteilt wurden, ist das eine historische Tatsache. Ob das nun Deutsche oder Franzosen sind, ist einerlei.
BS: Auch das muss man symbolisch begreifen. Das Böse kommt zwar in Form des Hans von Stoffeln, durch seine Traumatisierung, aber das Böse pflanzt sich innerhalb der Dorfbevölkerung auch fort und wächst sich zu einem grauenhaften Sündenbockmechanismus aus: Eine Frau, die am Rand der Gesellschaft steht, wird fürchterlich gemobbt, aber sie opfert sich letztlich doch für die riesige Gemeinschaft, die sich gegen sie verschworen hat. Und ob das jetzt Deutschritter sind, die in ein kleines Schweizer Dorf kommen, oder Franzosen, die in ein kleines deutsches Dörfchen kommen, spielt keine Rolle. Es geht mehr um den Mechanismus.
«In gewisser Hinsicht ist das Ganze ein Anti-Wilhelm-Tell.»
PB: In gewisser Hinsicht ist das Ganze ein Anti-Wilhelm-Tell. Zwar kommt der Vogt auch von aussen, aber wir brauchen diese Tatsache nicht dazu, um zu sagen, dass der böse Tyrann von aussen kommt. Wir sagen eher, dass die Gewalt, die irgendwo auf der Welt passiert, auch Sumiswald erreicht. Was in der Welt passiert, hat mit uns in der Schweiz zu tun. Und in der Tell-Geschichte gibt es den bösen Vogt und das Volk und Tell, die sich heldenhaft aufbäumen – während bei uns der Fokus auf dem Gegenteil liegt: Die Leute lassen sich von dieser Bosheit anstecken; sie werden feige; sie schliessen den Sündenbock aus; sie lassen am Schluss ihre Retterin im Stich.
MF: Die Komplexität ist grösser als bei Tell, weil sich Christine, um das Dorf zu retten, zu einem Fehler entscheidet. Das fand ich bemerkenswert, denn eine Heldin, die sich zu einem Fehler entscheidet, gibt dem Ganzen eine ganz andere Dimension, anders als wenn sie durchgehend eine Hollywood-Heldin bleiben und immer gewinnen würde. Sie verliert, aber sie gewinnt letztlich auch wieder. Ich hoffe, diese Komplexität ist nicht zu komplex für die Zuschauer. (lacht) Der Zuschauer, der kein Cineast ist, will Heldinnen sehen, die immer gewinnen.
BS: Was Christine immer hat, und was sie auch zur durchgehenden Heldin macht, ist das Gefühl, dass sie eine gesellschaftliche Verantwortung hat. Insofern ist sie neben Maria die Einzige, die nicht korrumpierbar ist. Der Rest der Dorfbevölkerung gibt dieses Verantwortungsgefühl für die Allgemeinheit auf.
MF: Und sie ist eine Weltenbürgerin, wie der Teufel. Sie ist fasziniert von diesem Mann, der nicht wie ein Bauer daherkommt, der gewählt spricht, der eine andere Sprache hat. Dass sie diese Faszination zulässt, ist zwar eine Schwäche, aber auch eine Stärke.
BS: Sie wagt etwas.
MF: Sie ist auch – und das wollte Lilith Stangenberg mittragen – immer etwas erotisiert von der Situation. Während des Films gibt es kleine Hinweise, die einen das subtil spüren lassen. Wenn man genau hinschaut, sieht man das.
Gibt es noch andere historische oder literarische Stoffe, deren Adaption euch theoretisch reizen würde?
PB: (lacht) «Unterm Rad»!
MF: Das ist nicht einfach. Es dauerte auch sehr lange, bis ich überhaupt zur «Schwarzen Spinne» gekommen bin. Aber das war der Stoff für mich. Natürlich gibt es noch viele andere Stoffe. Conrad Ferdinand Meyer ist zum Beispiel völlig untergegangen – den müsste man auch wieder einmal lesen.
PB: «Jürg Jenatsch» gäbe ein grosses Spektakel.
BS: Was an der «Schwarzen Spinne» so toll ist, ist, dass es diese Spinnen in der Geschichte tatsächlich gibt – so wird es ein cineastisches Erlebnis. Der literarhistorische Realismus bietet das nicht zwingend.
PB: Was mir gefällt, sind Projekte wie der «Schellen-Ursli»: Man nimmt eine Geschichte, die relativ einfach erzählt ist, und füllt ihre Leerstellen mit Fantasien auf. Bei Conrad Ferdinand Meyer könnte man nur das Gedicht «Die Füsse im Feuer» nehmen und daraus einen Film machen. Das wäre ein schönes Projekt.
BS: Uns reizt es aber schon, immer wieder in der Historie zurückzugehen. Die Konfrontationen mit unserer Gegenwart sind sehr interessant. Dank meines Theaterkontexts beschäftige ich mich sowieso immer mit vergangenen Stücken und Klassikern. Neuadaptionen und Überschreibungen. Altes für unsere Gegenwart fruchtbar zu machen, finde ich eine sehr interessante Baustelle, auf der ich gerne wieder arbeiten würde.
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«Die schwarze Spinne» läuft seit dem 10. März in den Deutschschweizer Kinos.
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