Andreas Egger hat sein ganzes Leben in einem abgelegenen Tiroler Tal verbracht – erst als Waisenjunge bei seinem Onkel auf dem Bauernhof, danach als Arbeiter bei den Bergbahnen, die sowohl Strom und Licht als auch Touristen und Lärm ins Tal brachtem. Er begegnet seiner grossen Liebe, verliert sie und blickt am Ende mit grosser Demut und ohne Gram auf das Geschehene zurück. Es ist eben «Ein ganzes Leben», das Hans Steinbichler in seinem Film erzählt.
Als Robert Seethaler («Der Trafikant») 2014 mit «Ein ganzes Leben» seinen fünften Roman veröffentlichte, hätte er wohl nicht ahnen können, dass dieses nur 185 Seiten lange Büchlein sein bisher erfolgreichstes Werk werden und in über 40 Sprachen übersetzt würde. Regisseur und Seethaler-Fan Hans Steinbichler («Winterrreise», «Das Tagebuch der Anne Frank») nahm in der Folge die Herausforderung an, diesen «Jahrhundertroman» auf die grosse Leinwand zu bringen. Zusammen mit Drehbuchautor Ulrich Limmer («Schtonk!») gelingt es ihm, dieses nur schwer verfilmbare Werk in grossen Bildern und mit hervorragendem Cast zu inszenieren.
Über acht Jahrzehnte, beginnend um 1900, wird das einfache und harte Leben des Andreas Egger beschrieben. Als Waisenkind (Ivan Gustafik) kommt er zu seinem Onkel, dem strenggläubigen, grantigen und verbitterten Bergbauern Kranzstocker (Andreas Lust), der den Jungen, bei niemand so genau weiss, wie alt er überhaupt ist, als billige Hilfskraft missbraucht und ihn bei jedem Vergehen oder Nicht-Vergehen erbarmungslos züchtigt – einmal gar so sehr, dass Andreas‘ Oberschenkelknochen bricht und er fortan für den Rest seines Lebens hinkt.
Einzig die alte Ahnl (Marianne Sägebrecht) ist ihm wohlgesinnt. Als sie stirbt und Kranzstocker erneut zuschlagen möchte, hält der inzwischen erwachsene Egger (Stefan Gorski) dagegen und verschwindet. Er heuert bei den Bergbahnen an, denn er ist kräftig und wie er selbst sagt: «Hinken tu ich nur im Tal; am Berg gehe ich gerade». Mit seinem Ersparten pachtet er vom Dorfwirt (Robert Stadlober) eine kleine Hütte in den Bergen, in die irgendwann auch Marie (Julia Franz Richter) als seine Frau einzieht. Die Begegnung der beiden – die zufällige Berührung, als Marie seinen Unterarm streift – ist eine Schlüsselszene in dieser stillen Geschichte, denn hier erfährt Egger erstmals, was Liebe ist; und Marie ist die Frau, die ihm zum ersten Mal ein Lächeln entlocken kann.
«Doch es folgen die Wirren des Zweiten Weltkriegs; Egger wird in Russland ‹vergessen› und kommt erst 1951 in sein Dorf zurück, wo er ein Einsiedlerdasein fristet, da er dem Lärm im Tal nicht mehr gewachsen ist.»
Doch es folgen die Wirren des Zweiten Weltkriegs; Egger wird in Russland «vergessen» und kommt erst 1951 in sein Dorf zurück, wo er, inzwischen gespielt von August Zirner, ein Einsiedlerdasein fristet, da er dem Lärm im Tal nicht mehr gewachsen ist. Wo früher die Pferdewagen die Arbeiter zum Berg brachten, fahren jetzt Autos und Omnibusse – und auch Egger fährt mit, bis zur Endstation, um zu sehen, was ihn am Ende des Tals erwartet. Auf dieser Fahrt blickt er zurück: Anstelle der Berge zieht sein Leben am Fenster vorbei, als sollten sich der historische Kontext und die Gipfel und Täler von Eggers Vita dem Publikum besonders einprägen. Steinbichler hält damit auch unserer rastlosen Leistungsgesellschaft einen Spiegel vor – denn das Wesentliche in Eggers Leben sind Liebe und Zufriedenheit.
Der Film hält sich chronologisch an den Erzählstil des Romans, geradlinig und ohne Pomp aus der Perspektive des Protagonisten. Man taucht emotional sofort in die Geschichte ein, vom ängstlichen Einziehen beim Kranzstocker bis zur schonungslosen Darstellung der vielen Toten und Verletzten beim Seilbahnbau. Die malerische Landschaft, das beeindruckende Alpenpanorama, die Dunkelheit des Tals, das erhebende Freiheitsgefühl auf den Berggipfeln, die verhärmten Gesichter der Menschen: Kameramann Armin Franzen hat hier hervorragende Arbeit geleistet.
«Die malerische Landschaft, das beeindruckende Alpenpanorama, die Dunkelheit des Tals, das erhebende Freiheitsgefühl auf den Berggipfeln, die verhärmten Gesichter der Menschen: Kameramann Armin Franzen hat hier hervorragende Arbeit geleistet.»
Diese wuchtige und dennoch stille Geschichte ist ganz grosses Kino, fernab von den bekannten Heimatfilmen aus den 1950er Jahren, wo der Nachkriegsbevölkerung eine heile Bergwelt vorgegaukelt werden sollte. Da kann man auch die stellenweise etwas gar dramatische orchestrale Musik von Matthias Weber verzeihen, die dann aufschreckt, wenn eher Stille angebracht wäre. «Ein ganzes Leben» beschreibt acht entbehrungsreiche Jahrzehnte im Leben eines einfachen Österreichers und zeigt Alltag und Landschaft, wie sie sind: vielfältig, karg, bedrohlich, majestätisch.
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Kinostart Deutschschweiz: 9.11.2023
Filmfakten: «Ein ganzes Leben» / Regie: Hans Steinbichler / Mit: Stefan Gorski, August Zirner, Ivan Gustafik, Julia Franz Richter, Marianne Sägebrecht, Robert Stadlober, Andreas Lust, Thomas Schubert, Maria Hofstätter / Deutschland, Österreich / 115 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Praesens-Film AG
Hans Steinbichlers «Ein ganzes Leben» zeigt acht Jahrzehnte eines bewegten Arbeiterlebens parallel zur wirtschaftlichen Entwicklung Tirols in dramatischen und wunderschönen Bildern.
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