Unter neuer Leitung bestreitet das Badener Animationsfestival Fantoche seine inzwischen 20. Ausgabe, die nahezu ohne grosse Überraschungen auskommt – aber dafür mit einem aktuellen Filmprogramm und zahlreichen langen und kurzen Animationsperlen punktet.
Die 20. Ausgabe des Animationsfestivals Fantoche läutet auch eine neue Ära ein: Nachdem sie im vergangenen Jahr das Zepter von Annette Schindler übernahm, die das Fantoche nach zehn Ausgaben als Festivalleiterin verliess, ist nun zum ersten Mal Ivana Kvesić für das Badener Trickfilmfestival verantwortlich. Kvesić hat sich als Co-Leiterin der Schweizer Jugendfilmtage und mit ihrem Engagement bei den Winterthurer Kurzfilmtagen und dem Swiss Women’s Audiovisual Network einen Namen gemacht. Wie ihre Vorgängerin ist auch sie eine «Branchenfremde», die mit Animationsfilm bisher wenig zu tun hatte – doch für das Trickfilmfestival, das sich immer noch damit schwertut, ausserhalb der Schweizer Animationsfilmszene wirklich wahrgenommen zu werden, könnte sich dieser Blick von aussen wie auch Kvesić‘ gute Vernetzung in der Schweizer Filmszene, als Glücksfall erweisen.
Die ganz grossen Umwälzungen bleiben indes aus – zumindest in diesem Jahr. Auch unter Kvesić setzt das Fantoche auf die bewährte Kombination aus aktuellen Langfilmen, einem reichhaltigen Kurzfilmwettbewerb sowie ergänzenden Retrospektiven und Kurzfilmprogrammen. Letztere werfen unter anderem einen Scheinwerfer auf das reichhaltige Filmschaffen aus den Balkan-Staaten – oder auf die tschechische Regisseurin Michaela Pavlátová, die mit einer Retrospektive ihrer verspielten Kurzfilme gewürdigt wird (grosse Empfehlung: der lüsterne «Tram» von 2012) und deren Langfilm «My Sunny Maad» das Fantoche ebenfalls zeigt.
Publikumslieblinge zum Jubiläum
Apropos Langfilme: Das Fantoche hat in diesem Jahr einen ganz grossen Fisch – beziehungsweise eine Muschel – an Land gezogen. So wird der von der Kritik umjubelte Langfilm «Marcel the Shell with Shoes On» von Dean Fleischer Camp am Fantoche als mutmassliche Europapremiere zu sehen sein. Und die zuckersüsse Stop-Motion-Mockumentary über eine Airbnb bewohnende Muschel hat die Aufmerksamkeit durchaus verdient, ist er doch nicht weniger als einer der besten Animationsfilme der letzten Jahre. Damit kompensiert das Festival gewissermassen auch, dass in diesem Jahr die grossen Publikumsmagnete fehlen – oder daneben gehen, wie im Fall des neuen Films des gefeierten israelischen Regisseurs Ari Folman («Waltz with Bashir»). Folman, 2019 noch selber zu Gast am Fantoche, schickt mit seinem Holocaust-Aufarbeitungs-Abenteuer «Where is Anne Frank» ein gehörig misslungenes Werk nach Baden. Gut, dass das Festival das mit zwei grossen Publikumslieblingen korrigiert: «Princess Mononoke» (1997) von Hayao Miyazaki wird als Jubiläums-Retrospektive gezeigt, während «Persepolis» (2007) von Marjane Satrapi und Vincent Paronnaud, die Verfilmung von Satrapis eigenen Comic, den Blick auf Krisen und ihre Überwindung richten soll.
Immerhin finden sich im Programm des Festivals gleich zwei aktuelle Produktionen mit Schweizer Beteiligung, welche die thematische und künstlerische Bandbreite des Animationsfilmschaffens zeigen: In seinem Puppentrickfilm «Interdit aux chiens et aux italiens», erzählt Regisseur Alain Ughetto anhand seiner eigenen Familiengeschichte von den Erfahrungen italienischer Gastarbeiter*innen in den 1960er Jahren. Die am Animationsfestival von Annecy zweifach ausgezeichnete Koproduktion mit Frankreich und Italien wurde unlängst am Filmfestival von Locarno gezeigt – und eröffnet nun auch das diesjährige Fantoche. Etwas leichtere Kost bietet dagegen «Yuku et la fleur d’Himalaya» von Arnaud Demuynck und Rémi Durin, der von einer kleinen Maus auf der Suche nach einer Himalaya-Blume erzählt. Der familienfreundliche 3D-Animationsfilm punktet mit einem farbenfrohen, verspielten Look.
Animierte Gedichte und Körpererkundungen
Noch mehr Schweizer Filmschaffen gibt es in der «Swiss Competition» zu sehen, die in zwei Programmblöcken insgesamt 20 vielversprechende Animationskurzfilme aus der Schweiz zeigt. Zum insgesamt neunten Mal in Folge dabei ist auch Frederic Siegel («The Lonely Orbit»), der gleich mit zwei experimentellen Kurzfilmen im Programm vertreten ist: Mit dem farbenfrohen «Sit Down, Don’t Touch Anything» sowie dem animierten Gedicht «script.exe», mit dem sich Siegels Kollektiv Team Tumult charmant dem Werk von «World of Tomorrow»-Regisseur Don Hertzfeldt annähert. Mit «La reine des renards» von Marina Rosset und «Intersect» von Dirk Koy sind ausserdem zwei Filme im Programm zu sehen, die erst gerade am Trickfilmfestival in Annecy ausgezeichnet wurden und die einmal mehr unterstreichen, wie divers und stark das hiesige Trickfilmschaffen inzwischen ist.
Die «International Competition», bestehend aus vier Blöcken mit insgesamt 32 Kurzfilmen, kann sich ebenfalls sehen lassen. Für die Schweiz geht Jonas Bienz‘ experimentelle Körpererkundung «Boddyssey» ins Rennen, der als einziger Film in beiden Wettbewerben vertreten ist. Derweil entzückt der estnische Regisseur Sander Joon («Velodrool») mit «Sierra» einmal mehr mit seiner schrägen Bildsprache und seiner Leidenschaft für den Rennsport, während die Vorjahres-Jurorin Réka Bucsi («Solar Walk») mit «Intermission» ihre experimentelle Reise fortsetzt. Ein weiteres Highlight im Programm ist der Porzellan-Puppenfilm «Bestia», Hugo Covarrubias‘ gruselige Aufarbeitung der Geschehnisse während der chilenischen Militärdiktatur, der im Frühjahr sogar für einen Oscar nominiert wurde.
Mit der 20. Ausgabe liefert das Fantoche gewohnt «suuberi Büez» mit einer aktuellen Langfilm-Auswahl und einem starken Wettbewerb. Es wird spannend sein, zu sehen, inwiefern sich das Festival unter der neuen Leitung in den kommenden Jahren entwickeln – und verändern – wird.
Das 20. Fantoche findet vom 6. bis 11. September 2022 in Baden statt. Das komplette Programm findet sich auf der Webseite des Festivals.
Über das Fantoche 2022 wird auch in Folge 48 des Maximum Cinema Filmpodcasts diskutiert.
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Titelbild: «Interdit aux chiens et aux italiens» von Alain Ughetto
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Themenbezogene Interessensbindung des Autors: Olivier Samter moderiert am Fantoche unter anderem den «Artist’s Brunch» und ist mit einigen der vorgestellten Filmschaffenden befreundet. Das bedeutet aber noch nicht, dass sie auch zwangsläufig mit ihm befreundet sind.
Bild- und Trailerquellen: Fantoche / Berlinale
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