Was für die Schweizer Filmbranche die Solothurner Filmtage sind, ist im Österreicher Markt die Diagonale Graz. Beim alljährlichen Filmfestival in der nun 22. Ausgabe ist der Name Programm: Im steirischen Graz wird vom 19.- 24. März ein Querschnitt durch die Landschaft des aktuellen Filmschaffens unseres östlichen Nachbarlandes gezogen, um die auf dieser Reise eingesammelten Filmperlen auf die Leinwänden der Grazer Kinos zu projizieren und das Publikum mit der wohl angenehmsten Krankheit der Welt anzustecken: dem Filmfieber.
Das Filmprogramm
Der fruchtbare Kern, das emsig pulsierende Herzstück, der Angel- und Drehpunkt der Diagonale besteht aus den aktuellsten audiovisuellen Kreationen der österreichischen Filmemacher. Die Diagonale unterteilt ihr umfängliches Filmprogramm in die Kategorien Spiel- und Dokumentarfilm, in welchen jeweils um den mit 21’000 Euro dotierten Grossen Preis gespielt und dokumentiert wird, sowie Sammelprogramme der Kategorien Innovatives Kino, Kurzspielfilme und Kurzdokumentarfilme.
Eröffnet wird das Filmfestival am Dienstag, 19. März mit dem Drama «Der Boden unter den Füssen». Der auf 35mm-Film gedrehte Spielfilm über die Unternehmensberaterin Lola (Valerie Pachner), deren geregeltes Leben nach dem Suizidversuch ihrer Schwester aus den Fugen gerät, erweist sich gleich zweifach als optimaler Eröffnungsfilm: Angeführt von der Grazer Regisseurin Marie Kreutzer sowie einem starken Schauspielerinnen-Dreiergespann (Valerie Pachner, Pia Hierzegger und Mavie Hörbiger) verweist er auf den Fokus «Über-Bilder: Projizierte Weiblichkeit(en)» und somit auf den aktuellen Diskurs der Frauenrolle im Filmbusiness. Andererseits spielt «Der Boden unter den Füssen» mit verschiedenen Ebenen der Realität und der Hinterfragung der Validität der eigenen Wirklichkeit. Und bekanntlich ist kein anderes Medium als Film für diese Auseinandersetzung mit der Verschiebung der (Un)wirklichkeiten geeignet. Und dass er uns dabei – wortwörtlich – den Boden unter den Füssen wegziehen kann, ist keine Neuigkeit.
Beim Durchforsten des Programms fällt die vermehrt düstere Stimmung auf, die den Festivalfilmen innewohnt. Mit Titeln wie «The Dark», «Neverland», «To The Night», «Die Kinder der Toten» oder «Das dunkle Paradies» verzeichnet die Diagonale ein Trend in Richtung düsterer Horrorfilme – zumindest wenn man sich nur an den Titeln orientiert.
Der niederösterreichische Regisseur David Schalko präsentiert mit «M – Eine Stadt sucht einen Mörder» ein Reboot von Fritz Langs Klassiker aus dem Jahr 1931 in Serienform, welche aus einer Staffel mit sechs Folgen zu je 45 Minuten besteht. An der Diagonale kann die topbesetzte Miniserie (Udo Kier, Moritz Bleibtreu, Lars Eidinger sowie Gerhard Liebmann als «M») in einem Rutsch angeschaut werden, wobei sich Nostalgie und kontemporäres Filmschaffen treffen.
Ebenfalls vertreten ist die jüngste Generation österreichischer Filmemacher: Im Episodenfilm «DON WHO ?» versammeln sich zehn Geschichten von zehn Jungregisseuren verschiedener Kunstuniversitäten aus Wien. Im Mittelpunkt jeder Geschichte steht dabei der Protagonist aus Molières Theaterstück «Dom Juan ou le Festin de Pierre» des Jahres 1665. Mithilfe von Kostümbild, Szenenbild, Ausstattung und Fantasie gestaltete so jede/r einzelne Regisseur/in des Projekts eine eigene moderne Version des Don Juan. Zudem kann der emsige Festivalbesucher mit einigen der Regisseuren am Freitagmorgen im Breakfast Club zu Semmel und Käse über Sinnigkeit und Unsinnigkeit des Genres Episodenfilm plaudern, bevor dann alle zusammen in den Kinosaal strömen, um den kinematografischen Ergüssen der zukünftigen Filmemacher zu frönen.
Innovatives Kino
In der Sparte Innovatives Kino sind Filme verschiedenster Länge zu sehen, die in denen die Grenzen des Mediums auf experimentaler Weise verwischt werden. In «DECODING The iPhone Xs: A Techno-Magical Portal» manipuliert Karin Ferrari das Videomaterial des von Apple produzierten Videoclips des iPhone Xs und kritisiert so die Konsumkultur. Rainer Kohlberger zeigt im ästhetisch-dystopischen «It has to be lived once and dreamed twice» das die fiktive Apokalypse, bei der der Mensch dran glauben muss, anhand von Bildanalyse-Algorithmen, die kunterbunte Digitalmalerei hervorbringen. Kurzfilme wie «Who’s Afraid of RGB», «W O W (Kodak)» oder «Rihaction» reflektieren die technologische Entwicklung des Mediums und decken dabei die Bandbreite der audiovisuellen Ausdrucksform von analogem Filmen bis hin zum Massenmedium Internet und Youtube-Hits.

«DECODING The iPhone Xs: A Techno-Magical Portal»
Dokumentarfilmprogramm
Das Dokumentarfilmprogramm zeigt sich ebenfalls vielseitig: Angela Christlieb führt die Zuschauer in «Under The Underground» in die Kellergewölbe der kreativen Wiener Musiker-Subkultur. Daniel Zimmermann begleitet in «Walden» eine in Österreich gefällte Tanne auf ihrer Reise durch verschiedene Verarbeitungsprozesse in den Brasilianischen Regenwald und beleuchtet so die globalen ökologischen sowie ökonomischen Kreisläufe, die unseren Planeten auf oftmals selbstzerstörerischer Weise zusammenhält. Dokus wie «The Remains – nach der Odyssee» oder «Refugee Lullaby» beleuchten verschiedene Leben von geflüchteten Menschen in Österreich und weisen so auf die politischen Umstände unserer Nachbarländer hin.
Das Rahmenprogramm
Neben Screenings der neusten Österreichischen Filme bietet die Diagonale ein reiches Rahmenprogramm. Das Festival setzt auf einen regen Diskurs zwischen Filmemachern und Publikum, und untersucht das Medium Film mit in Bezugnahme seiner verwandten medialen Formen wie Theater oder digitale Medien sowie gesellschaftspolitischen Themen auf seine Grenzen – und springt dabei auch über diese hinaus.
In Referenz: Nationalismus ist Gift für die Gesellschaft
In seinem Filmprogramm «Agitation-Ästhetik-Politik» präsentiert der radikale Filmkünstler Johann Lurf historische sowie aktuelle Filme, die politisches Handeln und Funktionen des Filmemachens vereinen.
Mit★ zeigt der Künstler zudem ein cinematographisches Experiment, in welchem er Ausschnitte des Sternenhimmels aus insgesamt 586 Filmen, die zwischen 1905 und 2018 entstanden sind, sammelt und chronologisch aneinanderreiht, und so einen filmischen Nachthimmel skizziert, der stetig wächst und doch immer der gleiche bleibt.
Und das ist noch nicht alles von Johann Lurfs Seite: Ebenfalls zeigt er im Kunsthaus Graz seine Serien «Earth Series» und «Cavalcade», Teile des letzteren fungieren ebenfalls als Festivaltrailer.
Ein Mühlerad im flachen Gewässer dreht sich immer schneller, dazwischen blinken politische Mottos auf: Die Diagonale setzt mit Querverweis auf die aktuelle Politik auf ein mit der realen Welt verschränktes Nervenkitzelkino.
Der Trailer kann mit einer 3D-Brille ebenfalls um eine Dimension erweitert betrachtet werden:
Über-Bilder: Projizierte Weiblichkeit(en)
Seit der #MeToo-Debatte, die im Herbst 2017 vom Zaun gebrochen ist, ist die Frage nach der Rolle der Frau im Film dauerpräsent. Unter anderen beehrt in diesem Zusammenhang die amerikanische Schauspielerin Rose McGowan die Diagonale und stellt ihr Buch «BRAVE» vor, in dem die #MeToo-Aktivistin von ihren Erfahrungen in Hollywood berichtet, Harvey Weinstein sein Fett wegbekommt und so auf die Dringlichkeit der Rekonsideration der Stellung von Frauen im Filmbusiness hinweist.

Hanno Pöschl
Zur Person
Zu seinem 70. Geburtstag widmet die Diagonale dem vielseitigen Wiener Schauspieler Hanno Pöschl eine Retrospektive. Sein Lebensweg führte vom Konditor über Wagenwäscher zum Theater, bis er schliesslich im Film landete und unter anderem vor der Kamera von Rainer Werner Fassbinder stand. In Verbindung mit dem historischen Spezialprogramm zeigt die Diagonale sieben Filme mit Hanno Pöschl, darunter «Geschichten aus dem Wiener Wald» (1979, Regie: Maximilian Schell) und «Querelle» (1982, Regie: Rainer Werner Fassbinder).
Das vollständige Programm der Diagonale findet sich hier: http://www.diagonale.at/festival/programmstruktur/
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Titelbild: To The Night 1 © Freibeuter Film
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