Alles, überall – und das erst noch gleichzeitig: Das Regisseur-Duo Daniel Kwan und Daniel Scheinert hat sich mit seinem neuen Film nicht gerade wenig vorgenommen. Munter mixen sie in der Action-Sci-Fi-Komödie «Everything Everywhere All at Once» Genres und Tonalitäten und kreieren damit ein überbordendes Spektakel, das obendrein einiges über Immigrationserfahrungen, Mutter-Tochter-Beziehungen und den Sinn des Lebens zu sagen hat.
Bereits mit ihrem Langspielfilm-Debüt «Swiss Army Man» (2016) zeigten Daniel Kwan und Daniel Scheinert – als Duo bekannt als «Daniels» –, dass ihr Herz für das Absurde schlägt: In dieser schwarzen Komödie verkörperte Daniel Radcliffe eine flatulierende Leiche, die einem gestrandeten Verlierer dabei hilft, von einer einsamen Insel zu entkommen. Wer sich auf die groteske Prämisse und die geballte Ladung Kindergarten-Humor einliess, wurde mit einem Film belohnt, der vor allem eines zeigte: Die überschäumende Kreativität der Daniels macht keinen Halt vor Konventionsbruch – und ist, unter der schrillen Oberfläche, durchaus interessiert an philosophischen Fragen über das Menschsein.
«Das neue Werk der Daniels, ‹Everything Everywhere All at Once›, erreicht die hiesigen Leinwände mit Wucht: Schon jetzt hat er in den USA die bisherigen A24-Kassenschlager ‹Lady Bird› und ‹Uncut Gems› in Sachen Umsatz überholt.»
Das neue Werk der Daniels, «Everything Everywhere All at Once», erreicht die hiesigen Leinwände mit Wucht: Schon jetzt hat er in den USA die bisherigen A24-Kassenschlager «Lady Bird» (2017) und «Uncut Gems» (2019) in Sachen Umsatz überholt; es ist einer der fünf höchstbewerteten Filme auf der populären Review-Plattform Letterboxd; und auch in die Top 250 von IMDb ist der Film bereits gerauscht. Liegen mag dies, so kann man mutmassen, an der mitreissenden Mischung aus Multiverse-Spektakel, Martial-Arts-Kino, Familiendrama und dem bekannten Daniel’schen Aberwitz.
Der Beginn von «Everything» ist dabei noch relativ konventionell: Evelyn (Michelle Yeoh) und ihr Ehemann Waymond (Ke Huy Quan) sind vor vielen Jahren aus China in die USA emigriert und haben gemeinsam einen Waschsalon eröffnet. Aufgrund falsch ausgefüllter Steuererklärungen müssen sie nun wiederholt beim Steueramt antanzen, da die Enteignung droht. Dazu hadert Evelyn mit der sexuellen Orientierung ihrer queeren Tochter Joy (Stephanie Hsu), bekommt von ihrem Ehemann die Scheidungspapiere präsentiert und hat ihren anspruchsvollen Vater aus China (James Hong) am Hals. Ihr Leben erscheint Evelyn wie ein Chaos – eines, das auf einer ganzen Reihe falscher Entscheidungen gründet.
Enter: Paralleluniversum-Waymond. Dieser sieht zwar aus wie ihr Ehemann, ist aber ein begabter Kung-Fu-Kämpfer, der eigenhändig einen Raum voller Gegner niedermähen kann – und die verwirrte Evelyn warnt, dass die Welt kurz vor dem Untergang stehe. Einzig Evelyn – das beteuert jedenfalls dieser seltsame neue Waymond – kann diesen Untergang verhindern, indem sie sich die Fähigkeit des Paralleluniversum-Springens aneignet und sich der Bösewichtin Jobu Tupaki stellt.
Unendliche Universen bergen bekanntlich unendliche Möglichkeiten, narrativ wie visuell. Von den melancholischen Bildern eines Wong Kar-wai («In the Mood for Love») über explosive Kampfszenen im Stile Jackie Chans bis hin zu bekannten Hollywood-Titeln wie «The Matrix» (1999) und Pixars «Ratatouille» (2007): Die Daniels kosten die Verschmelzung von Genres, Tonalitäten und Referenzen enthusiastisch aus und kreieren einen visuell berauschenden Flickenteppich. Dass ihnen dies mit vergleichsweise überschaubarem Budget gelingt, macht das Resultat noch beeindruckender.
«Von den melancholischen Bildern eines Wong Kar-wai über explosive Kampfszenen im Stile Jackie Chans bis hin zu bekannten Hollywood-Titeln wie ‹The Matrix› und Pixars ‹Ratatouille›: Die Daniels kosten die Verschmelzung von Genres, Tonalitäten und Referenzen enthusiastisch aus und kreieren einen visuell berauschenden Flickenteppich.»
Doch auch unter der Oberfläche tut sich einiges: der Sinn des Lebens, das trügerische Irrlicht des amerikanischen Traums, die Traumata des Immigrantenlebens in der westlichen Welt – «Everything» wirft Themen auf, die nachhallen. Besonders hervorzuheben ist etwa die Beziehung zwischen der liebevoll-strengen Mutter Evelyn und ihrer Tochter Joy, die das Kernstück des Films bildet: Inwiefern, fragt sich der Film, formt die Last der Immigrationserfahrung in den USA die Beziehungen innerhalb einer Familie? Welche Auswirkungen hat sie auf ihre Erwartungen, Hoffnungen und Ambitionen? Welche Möglichkeiten haben die verschiedenen Generationen, sich gegenseitig zu verstehen und ihre Differenzen zu respektieren?
Getragen werden sowohl der irrwitzige Blödsinn als auch die berührenden Momente von ungemein starken Darstellungen: Dass die Hauptrolle nicht, wie ursprünglich von den Daniels geplant, an Jackie Chan ging, ist ein Glück – denn Michelle Yeoh (als Action-Heldin unter anderem bekannt aus «Crouching Tiger, Hidden Dragon») brilliert in den wild choreografierten Actionsequenzen ebenso wie in den ruhigen Momenten, in denen Liebe und Enttäuschung auf ihren Gesichtszügen um Dominanz ringen. An ihrer Seite glänzen Stephanie Hsu als rebellische, um Anerkennung buhlende Tochter Joy und Ke Huy Quan als loyal-prügelnder Ehemann Waymond. Vervollständigt wird der Cast von Jamie Lee Curtis als abgelöschte Steuerinspektorin – eine so überspitzt karikierte und dennoch empathische Rolle, wie man sie sonst nur von Tilda Swinton kennt.
«Allein den Daniels dabei zuzusehen, wie sie sämtliche möglichen Zutaten mit diebischer Freude in den Spektakel-Mixer werfen, ist ein elektrisierendes Vergnügen.»
«Everything Everywhere All at Once» gelingen nicht alle seine irrwitzigen Sprünge – aber das ist auch nicht unbedingt nötig. Allein den Daniels dabei zuzusehen, wie sie sämtliche möglichen Zutaten mit diebischer Freude in den Spektakel-Mixer werfen, ist ein elektrisierendes Vergnügen. Dass dabei absurde Resultate wie ein «Ratatouille»-Waschbär namens Raccacoonie, philosophisch-berührende Konversationen zwischen zwei Steinen mit Wackelaugen und Menschen mit Hotdog-Fingern herauskommen, macht das Ganze nur noch besser.
Über «Everything Everywhere All at Once» wird auch in Folge 45 des Maximum Cinema Filmpodcasts diskutiert.
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Kinostart Deutschschweiz: 16.6.2022
Filmfakten: «Everything Everywhere All at Once» / Regie: Daniel Kwan, Daniel Scheinert / Mit: Michelle Yeoh, Ke Huy Quan, Stephanie Hsu, Jamie Lee Curtis, James Hong / USA / 140 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Filmcoopi
Actionsequenzen mit Hotdog-Fingern, Familiendrama mit Buttplugs, Sci-Fi-Spektakel mit Waschbär: Die Daniels lassen enthusiastisch Universen aufeinanderknallen. Das ist ebenso albern wie brillant.
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