«Evil Does Not Exist», der neue Film von «Drive My Car»- und «Wheel of Fortune and Fantasy»-Regisseur Ryūsuke Hamaguchi, ist eine meditative und einfühlsame, aber auch anregend unbequeme Metapher über Naturschutz und -zerstörung.
Die Rollen von Gut und Böse scheinen zu Beginn von «Evil Does Not Exist» klar verteilt zu sein. Takumi (Hitoshi Omika) und seine Tochter Hana (Ryō Nishikawa), das designierte Protagonist*innen-Duo, leben bescheiden und naturverbunden in einem kleinen Bergdorf ausserhalb von Tokio: Takumi hackt Holz, holt Wasser vom Bach und unterstützt die lokale Gaststätte bei der traditionellen Ramen-Zubereitung; derweil Hana durch die Wälder streift und, so scheint es, in perfekter Harmonie mit Flora und Fauna existiert.
Ganz anders kommen Takahashi (Ryūji Kosaka) und Mayuzumi (Ayaka Shibutani) daher: Sie kommen aus Tokio, unterhalten sich über Tinder-Dates und das richtige Arbeits-Mindset und verlieben sich in überkandidelt naiver, hoffnungslos oberflächlicher Stadtmaus-Manier ins ländliche «Idyll», in dem Takumi und Hana zu Hause sind. Und Takahashi und Mayzumi sind nicht einfach nur nervige Tourist*innen: Sie sind die Gesandten einer Tokioter Firma, die in besagtem Dorf eine Anlage für Glamour-Camping – kurz: Glamping – aus dem Boden stampfen will, um für die gestresste obere Mittelschicht der japanischen Hauptstadt ein neues Naherholungsgebiet zu erschliessen.

Hitoshi Omika und Ryõ Nishikawa in «Evil Does Not Exist» / © Cineworx GmbH
Die Affiche erinnert an Friedrich Dürrenmatts Theaterstück «Der Besuch der alten Dame» (1956) – oder an die ganz reale «Aufwertung» des Kantons Uri durch den Investor Samih Sawiris – und weckt damit gewisse erzählerische Erwartungen: Vielleicht werden Takumi und Hana ihren Besuch davon überzeugen können, dass ihre Heimat schützenswert und das Glamping-Projekt eine kurzsichtige Torheit ist – oder es könnte sein, dass es Takahashi und Mayuzumi wie Dürrenmatts Claire Zachanassian gelingt, die Dorfbevölkerung heimtückisch von den wirtschaftlichen Vorteilen einer grösseren touristischen Attraktion zu überzeugen.
Doch sowohl der Titel als auch der Regisseur von «Evil Does Not Exist» verraten im Grunde schon im Vorfeld, dass man es hier nicht mit einer simplen Moralfabel mit klar umrissenen Vertreter*innen von Gut und Böse, Richtig und Falsch, Ländlich-Rechtschaffen und Städtisch-Niederträchtig zu tun hat. Der Filmtitel verweigert sich geradezu programmatisch der Versuchung, in moralischen Absoluten zu denken; und Regisseur und Autor Ryūsuke Hamaguchi – der oscarprämierte Filmemacher hinter «Drive My Car» (2021) und «Wheel of Fortune and Fantasy» (2021) – ist bekannt für seine geduldigen, zutiefst empathischen Auseinandersetzungen mit anregend unvollkommenen Figuren.
«Doch sowohl der Titel als auch der Regisseur von ‹Evil Does Not Exist› verraten im Grunde schon im Vorfeld, dass man es hier nicht mit einer simplen Moralfabel mit klar umrissenen Vertreter*innen von Gut und Böse, Richtig und Falsch, Ländlich-Rechtschaffen und Städtisch-Niederträchtig zu tun hat.»
Entsprechend differenziert werden die scheinbar klaren moralischen Verhältnisse von «Evil Does Not Exist» im Laufe seiner 106 Minuten ausgeleuchtet. So gestehen Kameramann Yoshio Kitagawa und das Schnitt-Zweiergespann Hamaguchi und Azusa Yamazaki nicht nur den naturnahen, ästhetisch befriedigenden, ja fast schon beruhigend meditativen Alltagstätigkeiten von Takumi und Hana lange, beobachtende Einstellungen zu – auch die Repräsentant*innen aus der hauptstädtischen Business-Welt werden als dreidimensionale Menschen mit Sorgen, Nöten und Frustrationen etabliert.
Ihr Alltag mag sich in anonymen Büroräumen und verrauchten Autos statt spektakulären Gebirgswäldern abspielen, doch für Hamaguchi ist das kein Grund, Takahashi und Mayuzumi nicht die Möglichkeit zu geben, sich in ausgedehnten Dialogszenen als emotional vielschichtige Figuren zu erweisen, die mit persönlichen Rückschlägen zu kämpfen haben, mitunter mit ihrem eigenen Schicksal hadern und es vielleicht wirklich ernst meinen, wenn sie sagen, dass die frische Bergluft ihrer Seele guttut.

Ayaka Shibutani und Ryūji Kosaka in «Evil Does Not Exist» / © Cineworx GmbH
Auf der anderen Seite hinterfragt «Evil Does Not Exist» auch das Bild der Naturidylle, die man als Zuschauer*in wohl nur allzu gerne auf das Zuhause von Takumi und Hana projiziert. Ein Schlüsselmoment des Films ist Takumis beiläufige Erwähnung der Tatsache, dass das Dorf, dessen «Tradition» vom Bau einer Glamping-Anlage bedroht würde, erst seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs existiert – dass hier vor weniger als 80 Jahren schon einmal in die Natur eingegriffen wurde, um Platz für einfache Wohnhäuser und auf althergebrachte Ramen-Rezepte spezialisierte Gaststätten zu schaffen.
Ein kurzsichtigerer Film würde nun hier einen thematischen Schlussstrich ziehen und es bei der blossen Gegenüberstellung der beiden Seiten bewenden lassen: Das Bergdorf wäre als schützenswertes Stück Natur entzaubert, die Prophet*innen des Glamping-Resorts vom Vorwurf befreit, nichts als zynische Gierschlünde zu sein – und das Publikum könnte sich auf die Schulter klopfen, einen «fairen», «ausgewogenen» Film über das «komplexe» Thema Umweltschutz und -zerstörung gesehen zu haben, nach Hause gehen und keinen Gedanken mehr an den dargestellten Konflikt verschwenden.
«‹Evil Does Not Exist› tappt nicht in die Falle der falschen Ausgewogenheit.»
Doch Hamaguchi gehört nicht umsonst zu den besten Filmemacher*innen der Gegenwart – und «Evil Does Not Exist» tappt nicht in die Falle der falschen Ausgewogenheit. Denn obwohl Takahashi und Mayuzumi nachdrücklich als Menschen mit ernst zu nehmendem, ja sogar nachvollziehbarem Innenleben auftreten, entbindet sie das – in der Erzähllogik des Films – nicht von der Verantwortung, die sie in ihrer Rolle als Glamping-Advokat*innen tragen.

© Cineworx GmbH
«Das Böse gibt es nicht», proklamiert der Titel. Schön und gut, aber selbst wenn man sich von der allzu simplen Vorstellung, dass Leute wie Takahashi und Mayuzumi Verkörperungen des Bösen sind, verabschiedet, bleibt der Effekt ihrer Taten derselbe: Die Heimat von Takumi und Hana wird sich bis zur Unkenntlichkeit verändern – sei es durch die Zerstörung der einheimischen Natur oder durch den gesteigerten Einfluss von Industrie und Kapital. «Evil Does Not Exist» ist keine Verteidigung von Takahashi und Mayuzumi; es ist ein Film über die Nutzlosigkeit, strukturelle und institutionelle Probleme einzig und allein an kleinen, austauschbaren Individuen festzumachen.
«Hamaguchi illustriert hier auf eindrückliche Weise, wie essenziell es ist, in Zeiten des eskalierenden Kimawandels längerfristig zu denken.»
Gleichzeitig illustriert Hamaguchi hier auf eindrückliche Weise, wie essenziell es ist, in Zeiten des eskalierenden Kimawandels längerfristig zu denken. In der vielleicht besten Szene des Films – einer mitreissenden Diskussion zwischen Dorfbewohner*innen und Glamping-Projektmitarbeiter*innen, die auch in einer Dokumentation von Frederick Wiseman («Menus-Plaisirs – Les Troisgros») nicht fehl am Platz wäre – meldet sich ein älterer Mann mit einer ebenso einfachen wie praxisbezogenen Metapher zu Wort: Wenn ein Dorf einen Flussabschnitt verschmutzt, hat das Konsequenzen für alle Dörfer, die flussabwärts liegen.

© Cineworx GmbH
«Evil Does Not Exist» handelt in seinem Kern von genau diesem Sachverhalt: Die Frage, ob in einem Bergdorf eine Glamping-Anlage eröffnet werden soll, ist niemals nur eine Frage über das Bergdorf und die Glamping-Anlage, sondern auch eine über die «Downstream»-Effekte dieses Vorhabens.
«Letztendlich kommen wir nicht um die Tatsache herum, dass wir es hier mit einem Kampf ums nackte Überleben zu tun haben.»
Daher auch das radikale, auf den ersten Blick irritierend inkongruent wirkende Ende, mit dem Hamaguchi sein Publikum aus dem Kinosaal entlässt: So verlockend und beruhigend es auch sein mag, die gegenwärtigen Debatten über Naturschutz und die kapialistisch motivierte Ausbeutung und Zerstörung der Umwelt intellektuell zu abstrahieren – letztendlich kommen wir nicht um die Tatsache herum, dass wir es hier mit einem Kampf ums nackte Überleben zu tun haben.
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Kinostart Deutschschweiz: 11.4.2024
Filmfakten: «Evil Does Not Exist» («悪は存在しない», «Aku wa Sonzai Shinai») / Regie: Ryūsuke Hamaguchi / Mit: Hitoshi Omika, Ryō Nishikawa, Ryūji Kosaka, Ayaka Shibutani / Japan / 106 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Cineworx GmbH
Ryūsuke Hamaguchis «Evil Does Not Exist» ist geduldig, intensiv, empathisch – und gerade deshalb eine ungemein aufwühlende Auseinandersetzung mit der Zerstörung der Natur.
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