Nach sechs Jahren Schaffenspause ist der finnische Kultregisseur Aki Kaurismäki zurück: «Fallen Leaves» ist eine anrührende tragikomische Romanze nach altem Hollywood-Rezept, die einiges an politischer Relevanz in sich trägt.
Eine Frau (Alma Pöysti) kommt nach einem langen Arbeitstag im Supermarkt nach Hause in ihre spartanische, im Fünfzigerjahre-Stil eingerichtete Wohnung, schaltet das Radio ein, stellt sich ein Fertiggericht in die Mikrowelle, wirft es weg und legt sich resigniert in ihr schmales Bett. Anderswo sitzt ein Mann (Jussi Vatanen) in einem zum Wohncontainer umfunktionierten Eisenbahnwagen: Auch er lässt sich vom Radio berieseln, während er einen Superman-Comic liest und an einer Zigarette zieht, das Wodkafläschchen in Griffweite.
Es sind zwei Figuren, zwei Szenerien, zwei Momente, die sich in dieser Form an irgendeinem beliebigen Punkt in der Filmografie des finnischen Regisseurs Aki Kaurismäki, des Meisters der alkohol- und zigarettenrauchgetränkten Lakonie, verorten liessen. Ob «The Match Factory Girl» (1990), «Drifting Clouds» (1996), «The Man without a Past» (2002) oder «Lights in the Dusk» (2006): Kaurismäkis Kino handelt von den prekären Lebensverhältnissen der Arbeiterklasse; seine Protagonist*innen begegnen den Herausforderungen und Schicksalsschlägen, die ihnen widerfahren, mit einem Minimum an Worten und sichtbaren Gefühlsregungen; und das Umfeld, in denen sie sich bewegen, erinnert visuell an Zeiten, in denen Rauchverbote noch als Modeerscheinung abgetan werden konnten. Kurz: Einen Kaurismäki erkennt man auf den ersten Blick – und sein neuester Wurf, die in Cannes ausgezeichnete romantische Tragikomödie «Fallen Leaves», ist keine Ausnahme.
«Einen Kaurismäki erkennt man auf den ersten Blick – und sein neuester Wurf, die in Cannes ausgezeichnete romantische Tragikomödie ‹Fallen Leaves›, ist keine Ausnahme.»
Doch die alten Radios, die Ansa (Pöysti) und Holappa (Vatanen) vorübergehend davor bewahren, mit ihren eigenen Gedanken allein zu sein, machen unmissverständlich deutlich, dass sich Kaurismäki hier nicht in eine romantisierte Zeitlosigkeit flüchtet. Im Gegenteil: Wie schon in «Le Havre» (2011) und «The Other Side of Hope» (2017) – seinen bisher letzten beiden Regiearbeiten, die sich beide kritisch mit der restriktiven europäischen Flüchtlingspolitik auseinandersetzten – ist es in «Fallen Leaves» nicht zuletzt das aktuelle Weltgeschehen, das ihn thematisch umtreibt.
Was Ansa und Holappa hören, ist nicht etwa Musik, sondern das Neueste aus dem Ukrainekrieg: Die russische Armee habe ein Krankenhaus, ein Theater, eine Schule bombardiert, vermelden die knisternden Stimmen der Nachrichtensprecher*innen. Das Rote Kreuz habe seine Mission vorsichtshalber unterbrechen müssen. Ein Experte mahnt, dass Russland bereits in Syrien völker- und menschenrechtswidrige Angriffe geflogen habe.
Dass es ausgerechnet ein finnischer Film ist, dessen Geschichte von diesen gespensterhaften Ukrainekriegsdepeschen heimgesucht wird, kommt nicht von ungefähr, scheint der russische Präsident Vladimir Putin mit seinen aggressiven Kriegshandlungen doch eine Wiederherstellung der alten imperialen Grenzen Russlands anzustreben – Grenzen, die bis 1917 auch das benachbarte Finnland mit einschlossen.
«Es ist der Stoff einer alten Hollywood-Romanze, einem leider allzu oft für unzeitgemäss erklärten Format, das Kaurismäki hier – nicht zum ersten Mal in seiner Karriere – aufgreift und mit seinem stoisch-schrägen Sinn für Humor anreichert.»
Doch «Fallen Leaves» erzählt nicht vom Krieg. Er erzählt von Ansa und Holappa, von der Ausbeutung von Menschen mit Null-Stunden-Verträgen, von Arbeit, die krank macht, von der Kaltherzigkeit der profitorientierten Arbeitgeber*innen und der Schönheit der Klassensolidarität, von der Hartnäckigkeit der Liebe und von der Überzeugung, dass das Leben lebenswert ist, allen Widrigkeiten zum Trotz. Es ist der Stoff einer alten Hollywood-Romanze, einem leider allzu oft für unzeitgemäss erklärten Format, das Kaurismäki hier – nicht zum ersten Mal in seiner Karriere – aufgreift und mit seinem stoisch-schrägen Sinn für Humor anreichert.
Entsprechend verhält sich auch die Handlung: Ansa und Holappa treffen sich in einer Karaokebar, während Huotari (Janne Hyytiäinen) – Holappas bester Freund, der nicht einmal seinen Vornamen kennt – eine schnulzige finnische Ballade zum Besten gibt. Ihre Blicke streifen sich, ganz nach althergebrachtem Charlie–Chaplin-Rezept, doch sie beide sind noch zu schüchtern, zu verhaftet im eigenen Einzelgängertum, um dem romantischen Skript auf Anhieb zu folgen. In der Folge verabreden sie sich zum Kaffee, gehen ins Kino – ein wunderbarer Cameo von Jim Jarmuschs Endzeit-Farce «The Dead Don’t Die» (2019), den eine phlegmatisch dreinblickende Alma Pöysti mit einem herrlich mehrdeutigen «Ich habe noch nie so gelacht» kommentiert – und fallen zwischenzeitlich den Irrungen und Wirrungen des Grossstadtlebens zum Opfer.
Dazwischen verliert Ansa ihre Supermarktstelle, weil sie abgelaufene Produkte an Obdachlose weitergibt oder mit nach Hause nimmt, anstatt sie wegzuwerfen, heuert in einer zwielichtigen Bar an und landet schliesslich in einem Stahlwerk – derweil Holappa auf dem Bau toxische Staubwolken inhaliert und sich langsam zu Tode trinkt.
Dieser bewusst ausgereizte Kontrast zwischen tristen Versatzstücken, absurder Komik und der stillen, nur grob skizzierten Zuneigung, den die beiden Hauptfiguren füreinander empfinden, mag auf manche auf den ersten Blick vielleicht etwas gar simpel wirken; doch es ist just diese scheinbare erzählerische und emotionale «Naivität», die «Fallen Leaves» auszeichnet und mit der er sich von bemühteren, didaktischeren cineastischen Beiträgen zur Weltlage abhebt.
«Der Kampf gegen die kriegstreibenden Despot*innen dieser Welt – und ihren Steigbügelhalter, das Kapital – dauert ebenso an wie das Streben nach umfassender sozialer Gerechtigkeit.»
Denn sosehr der Film auch von seiner Retro-Ästhetik lebt – vom angejahrten primärfarbenen Dekor bis hin zu den präzise ausgeleuchteten, unverhohlen künstlichen und genau darum umso eindringlicheren Kompositionen von Kaurismäkis langjährigem Hauskameramann Timo Salminen –, seine Vision ist ganz in der zeitgenössichen Realität und den immer noch hochgradig relevanten politischen Anliegen von Kaurismäkis Werk verankert: Der Kampf gegen die kriegstreibenden Despot*innen dieser Welt – und ihren Steigbügelhalter, das Kapital – dauert ebenso an wie das Streben nach umfassender sozialer Gerechtigkeit.
Im Angesicht dieser oftmals unmöglich erscheinenden Herausforderungen kann man entweder der Verzweiflung und der Apathie – oder, wie Holappa, dem selbstzerstörerischen Exzess – verfallen, oder man hält nur noch entschlossener an der eigenen Menschlichkeit fest: Man singt Schnulzen in heruntergekommenen Bars; man stellt sich solidarisch neben die eigene Arbeitskollegin, die unter himmelschreiend ungerechten Umständen entlassen wird; man adoptiert einen verirrten Hund, den niemand will; man verliebt sich.
«‹Fallen Leaves› ist ein scharfsinniger, zutiefst empathischer Film über das Leben in einer dystopischen Gegenwart, der sich in erster Linie nicht als politisches Manifest, sondern als kunstvoll überhöhte Leinwandgeschichte versteht.»
«Fallen Leaves» ist, wie unlängst der ebenso grossartige «Roter Himmel», ein scharfsinniger, zutiefst empathischer Film über das Leben in einer dystopischen Gegenwart, der sich in erster Linie nicht als politisches Manifest, sondern als kunstvoll überhöhte Leinwandgeschichte versteht, mit all den «unrealistischen» und starrköpfig optimistischen Wendungen, die dazugehören. Ja, es ist eine Fabel, die Kaurismäki hier erzählt, doch sie dient nicht dem Eskapismus, sondern erinnert an die Notwendigkeit, sich eine bessere Welt vorzustellen.
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Kinostart Deutschschweiz: 14.9.2023
Filmfakten: «Fallen Leaves» («Kuolleet lehdet») / Regie: Aki Kaurismäki / Mit: Alma Pöysti, Jussi Vatanen, Janne Hyytiäinen, Nuppu Koivu / Finnland, Deutschland / 81 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Filmcoopi Zürich AG
Minimalistisch, lakonisch, witzig, romantisch und unterschwellig politisch: «Fallen Leaves» ist ein Aki-Kaurismäki-Film, wie er im Buche steht – und womöglich eines seiner besten Werke.
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