Werner Herzog hat im Laufe seiner bald 60-jährigen Karriere die Schnittstelle zwischen Spiel- und Dokumentarfilm zu seinem Spezialgebiet gemacht. Sein neuester Film, das in Tokio spielende Drama «Family Romance, LLC», treibt diese Faszination auf die Spitze.
Nicht viele noch aktive Filmemacher*innen dürften auf ein so bewegtes Leben zurückblicken wie Werner Herzog. Die Biografie des 77-jährigen Bayern ist randvoll mit ungewöhnlichen, nicht selten unglaublichen Anekdoten: In Kamerun wurden er und seine kleine Crew einst ins Gefängnis gesteckt, weil der Kameramann einen ähnlichen Namen trug wie ein deutscher Söldner, der in absentia zum Tod verurteilt worden war. Für den Film «Fitzcarraldo» (1982), dessen Produktion Jahre in Anspruch nahm, liess er im peruanischen Dschungel ein tonnenschweres Schiff über einen Hügel ziehen, während Hauptdarsteller Klaus Kinski Zeter und Mordio schrie. 2006 wurde er in Los Angeles während eines Interviews von einem Luftgewehr angeschossen.
Vielleicht sind es gerade diese überlebensgrossen Erfahrungen, die ihn zu einem Geschichtenerzähler gemacht haben, der es mit der Differenzierung zwischen so bürgerlichen Kategorien wie «wahr» und «erfunden» nicht so genau nimmt. Viel wichtiger für sein Schaffen ist die «ekstatische Wahrheit» – die Entdeckung des Surrealen in der Realität, die Poesie in der Grauzone zwischen Fakt und Fiktion. «Aguirre, der Zorn Gottes» (1972), Herzogs Abenteuerfilm über einen grössenwahnsinnigen Konquistador im 16. Jahrhundert, ist im Vérité-Stil einer Dokumentation gedreht, inklusive regenbenetzter Linse und verstohlen in die Kamera blickender Akteure. In «Gesualdo: Tod für fünf Stimmen» (1995) wird anhand von Experteninterviews das Leben des Komponisten Carlo Gesualdo aufgearbeitet – und gleichzeitig mit erfundenen Ereignissen ausgeschmückt.
«Dieses undurchsichtige Verhältnis zwischen Wahrheit und Fantasie kostet Herzog in ‹Family Romance, LLC›, seiner insgesamt 67. Regiearbeit, voll aus.»
Dieses undurchsichtige Verhältnis zwischen Wahrheit und Fantasie kostet Herzog in «Family Romance, LLC», seiner insgesamt 67. Regiearbeit, voll aus. Der dokumentarisch-nüchtern vorgetragene Film wurde von Yuichi Ishii inspiriert, einem japanischen Unternehmer, dessen Geschäft darin besteht, Schauspieler*innen an Menschen zu vermieten, die jemanden zu ersetzen haben. Kommt ein enger Freund nicht zur Hochzeit? Will man Zeit mit einem verschwundenen Familienmitglied verbringen? Muss man seinen Arbeitskolleg*innen vorgaukeln, verheiratet zu sein? Ishii und «Family Romance, LLC» können helfen.
Doch damit nicht genug: Ishii spielt sich hier selber, und zwar während eines besonders heiklen Auftrags. Eine Frau (Miki Fujimaki) bittet ihn darum, sich ihrer zwölfjährigen Tochter Mahiro (Mahiro Tanimoto) als ihr Vater auszugeben, der die Familie verliess, als sie noch ein Kleinkind war. In einer fünfminütigen Einführung, die Herzog für die Arthouse-Streaming-Plattform MUBI aufgenommen hat, erzählt in seinem markanten, bayrisch akzentuierten Englisch voller Stolz: «Some reviewers, professional ones, believed that the film must be a documentary. But of course, it’s all staged.»
«In der Manier von Abbas Kiarostamis doppelbödigen Performance-Filmen – insbesondere ‹Close-Up›, ‹Copie conforme› und ‹Like Someone in Love› – sucht Herzog nach der Wahrheit in der Fälschung.»
Das ist denn auch der Clou von «Family Romance, LLC»: In der Manier von Abbas Kiarostamis doppelbödigen Performance-Filmen – insbesondere «Close-Up» (1990), «Copie conforme» (2010) und «Like Someone in Love» (2012) – sucht Herzog nach der Wahrheit in der Fälschung. Denn obwohl Yuichi Ishii nicht Mahiros Vater ist, entstehen zwischen den beiden nach und nach echte Gefühle der familiären Zuneigung. Für die einsame Mahiro, die ihren Instagram-Followern ein fröhlicheres Leben vorgaukelt, ist das ein Segen; derweil Yuichi zunehmend mit den Tücken der ewigen Unwirklichkeit konfrontiert wird: Was, wenn auch seine eigene Familie nicht echt ist?
Herzog mag hiermit kein thematisches Neuland beschreiten, und auch nicht alle Facetten der modernen japanischen Gesellschaft und Kultur, an denen sein Interesse und seine Kamera hängenbleiben, tragen zur Vertiefung dieses Leitmotivs bei. So hätten etwa die Hinweise auf das Problem des Rassismus in Japan etwas zielgerichteter eingesetzt werden können.
Dennoch ist «Family Romance, LLC» ein formidables Spätwerk. Herzog greift Gedankengänge über Performance, Authentizität, Identität und die wirtschaftliche Dimension von Kunst auf, die ihn bereits in Werken wie «Die grosse Ekstase des Bildschnitzers Steiner» (1974) oder «Glaube und Währung» (1980) umtrieben, und reichert sie mit faszinierenden Meta-Elementen und einer durchaus berührenden (Nicht-)Vater-Tochter-Erzählung an. Ja, «of course, it’s all staged» – aber das heisst noch lange nicht, dass in diesem vertrackten Lügenspiel nicht sehr viel Wahrheit drinsteckt.
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Filmfakten: «Family Romance, LLC» / Regie: Werner Herzog / Mit: Yuichi Ishii, Mahiro Tanimoto / USA / 89 Minuten
Bild- und Trailerquelle: MUBI / © Lena Herzog
Wie viel Wahrheit steckt in einer Fälschung? «Family Romance, LLC» fasziniert mit erzählerischer Doppelbödigkeit und einer spannenden Auseinandersetzung mit Performance.
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[…] reich illustrierte Buch eröffnet nach einem Kapitel über Herzogs seinerzeit jüngsten Film, Family Romance, LLC (2019), mit einem vom Autor geführten Interview, das sich im Kern um eben diesen Film dreht und […]